Radioen

On air

Notturno  |  Nashville Ambient Ensemble - Horizon

play_arrow Live
arrow_back_ios

100komma7.lu

100komma7.lu

/ Pharmakon Hoffnung

Seismograph

Pharmakon Hoffnung

Die Hoffnung scheint die Gefühlslage der Stunde zu sein: hoffen wir nicht gerade alle auf einen Corona-Impfstoff, der die Normalität wieder zurückbringt? Bis dahin hoffen wir, dass wir gesund bleiben, und dass die Schulen nicht schließen, wir hoffen, dass die Politiker die richtigen Entscheidungen treffen, dass die Wirtschaft sich erholen wird und vor allem, dass wir das Ganze unversehrt überstehen.

auto_stories

4 min

Der Philosophe Lukas Held. Foto: Archiv

Simon Larosche: Lukas, bei dir geht es heute um das Thema "Hoffnung".

Lukas Held: Ganz genau. Mir scheint nämlich, dass die Hoffnung die Gefühlslage der Stunde ist: hoffen wir nicht gerade alle auf einen Corona-Impfstoff, der die Normalität wieder zurückbringt? Bis dahin hoffen wir, dass wir gesund bleiben und dass die Schulen nicht schließen, wir hoffen, dass die Politiker die richtigen Entscheidungen treffen, dass die Wirtschaft sich erholen wird und vor allem, dass wir das Ganze unversehrt überstehen; wir hoffen, dass wir bald wieder wegfahren können, dass wir uns bald wieder versammeln können, wir hoffen, dass wir unsere Freiheit zurückgewinnen.

Die einen hoffen vielleicht, dass die ganze Bagage gegen die Wand fährt, sprich dass sich der Kapitalismus selbst abschafft. Die anderen hoffen hingegen, dass sich bloß nichts ändert, das alles beim Alten bleibt. Und ganz nebenbei hoffen wir auch noch, dass Trump nicht wiedergewählt wird, dass wir die Klimakatastrophe irgendwie noch abwenden können, und dass bald alles besser wird - hoffentlich. A propos: zählen Sie einmal, wie oft Sie in letzter Zeit eben dieses Wörtchen - "hoffentlich" - gehört oder selbst gesagt haben. Ich denke, Sie wären erstaunt...

Aber ist es nicht normal, dass man hofft, wenn man nicht weiß, was auf einen zukommt?

Natürlich, nur muss man wissen, dass die Hoffnung ein pharmakon ist, also sowohl ein Heilmittel als auch ein Gift - und ein sehr gefährliches obendrein. Die Hoffnung lässt uns einerseits die härtesten Prüfungen und die schwersten Situationen überstehen; sie flüstert uns zu, dass wir durchhalten sollen, dass bald alles besser sein wird, dass da Licht am Ende des Tunnels ist. Aber zugleich hält die Hoffnung uns zurück, sie lullt uns ein, und macht so das Inakzeptable akzeptabel. Sie lenkt unseren Blick in die weite Ferne, weg von dem Gegenwärtigen, weg von den Problemen, die um uns herum sind.

Für Nietzsche ist die Hoffnung sogar das "übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert" - denn durch die Hoffnung wird sogar das qualvollste Leben irgendwie annehmbar. Genau das macht die Hoffnung so gefährlich: sie verschiebt die Gegenwart in die Zukunft, in eine Zukunft, die aber niemals eintritt. Deshalb muss sich irgendwann Frustration, und schließlich Resignation einstellen.

Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Man könnte fragen: stirbt sie nicht gerade deshalb zuletzt, weil sie vorher alle anderen Gefühle abgetötet hat? Oder anders gesagt: verstellt uns die Hoffnung nicht den Blick auf die Ursachen, verblendet sie uns nicht die Einsicht in unsere eigenen Möglichkeiten? Und stehen wir nicht ziemlich erbärmlich da, wenn man uns die Hoffnung nimmt? Was, wenn es niemals einen funktionierenden Impfstoff geben wird, was wenn Trump wiedergewählt wird, was, wenn all die Ereignisse, auf die wir hoffen, nicht eintreten? Was dann?

Wodurch sollen wir die Hoffnung denn ersetzen?

Vielleicht müssen wir die Hoffnung gar nicht ersetzen, sondern nur neu formulieren. Das Problem an der Hoffnung ist ja, dass sie zum ewigen Warten verleitet, weil sie den Blick in die Ferne zieht. So verstanden ist Hoffnung eine Art Kalkül, sie ist die Erwartung des Wahrscheinlichen, des "Vielleicht", das sicherlich, bestimmt, irgendwann und irgendwie eintreten wird - und weil man sich da so sicher ist, wartet man halt eben ab, geduldig und brav.

Ich plädiere dagegen für eine Form des Hoffens, die nicht abwartet, sondern die offen und aufmerksam bleibt für die gegenwärtigen Ereignisse - und vor allem für die unerwarteten Ereignisse. Denn genau hier liegt der Schlüssel für mögliche Veränderung: in der Öffnung für das Neue, im Willen, die Möglichkeiten zu ergreifen, die in unser Leben treten und mit denen wir niemals gerechnet hätten - eben weil sie sich nicht berechnen lassen.

Wer so hofft, erkennt, dass Veränderung kein fernes Ereignis ist, sondern mit der Bereitschaft beginnt, Veränderung selbst zu wollen und sie zuzulassen. Mit anderen Worten: zu hoffen, wirklich zu hoffen, bedeutet, die Realität durch das Prisma der Möglichkeit zu sehen, und das umso mehr dann, wenn die Dinge sehr verfahren wirken. Das ist keine Kleinigkeit und sicherlich nicht einfach - aber ermöglicht uns, der leeren Passivität des Wartens zu entfliehen. Auf den Corona-Impfstoff zu hoffen bedeutet dann, mit der Möglichkeit zu rechnen, dass es diesen Stoff niemals geben wird, das zu akzeptieren und sein Leben danach auszurichten.