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Prisma

Die Welt ohne uns

In den Nachrichten der letzten Woche stachen neben den Massendemonstrationen in den USA zwei weitere Ereignisse heraus: Einerseits die Wiedereröffnung der Gastronomie im Rahmen der 3. Phase des Déconfinement, andererseits der Start der ersten bemannten Weltraummission der privaten Firma Space X des Tesla-Chefs Elon Musk. Obwohl diese beiden Ereignisse auf den ersten Blick sehr verschieden sind, haben beide doch etwas gemeinsam.

Lukas Held erklärt, was es damit auf sich hat und inwiefern philosophische Konzepte uns helfen können, das Zeitgeschehen aus einer anderen Perspektive zu sehen.

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5 min

Foto: Archiv

Konzeptfabrik

Das Tagesgeschäft des Philosophen besteht darin, Begriffe oder Konzepte zu erschaffen. So beschrieb es zumindest der französische Poststrukturalist Gilles Deleuze. Damit meinte er, dass es dem Philosophen zunächst einmal darum geht, bestehende Probleme zu benennen, um sich diesen Problemen anschließend mithilfe neuer und vor allem eigener Konzepte zu nähern. Besonders interessant wird es immer dann, wenn zwischen diesen beiden Instanzen, zwischen Problem und Konzept, eine Wechselwirkung besteht, wenn also die Probleme neue Begriffe verlangen, und diese neuen Begriffe wieder neue Probleme hervorrufen, usw. Deshalb kann Philosophie - im Gegensatz zu anderen Wissenschaften - eigentlich gar nicht nicht existieren, schließlich bedarf sie weder technischer Apparate, noch Lehrstühle und auch keiner Forschungsgelder.

Philosophie lebt allein vom Mut, Probleme aufzuwerfen und diese Probleme auf kreative Weise zu bewältigen - rein geistig, mithilfe von Konzepten. Dazu bedarf es auch keiner großen Infrastruktur, denn die Konzeptfabrik des Philosophen ist meist der heimische Schreibtisch und sein Konzeptfabrikat packt er am liebsten zwischen zwei Buchdeckel.

Eben hier, zwischen zwei Buchdeckeln, entdeckte ich kürzlich ein Konzept, das uns vielleicht dabei helfen kann, das zu denken, was gerade in unserer Welt geschieht. Der Fabrikant dieses Konzeptes heißt Eugene Thacker, ist Amerikaner und Professor für Medienstudien an der New School in New York. Sein Buch trägt den Titel "Im Staub dieses Planeten", ist im Original bereits 2011 erschienen und wurde erst kürzlich ins Deutsche übertragen. Und das dort vorgestellte Konzept, von dem ich jetzt sprechen möchte, ist das Konzept der Welt-ohne-uns. Was hat es damit auf sich?

Welt / Erde / Planet

Thacker knüpft an die alte kantische Unterscheidung zwischen der Welt-für-uns und der Welt-an-sich an. Das muss ich kurz erklären. Die Welt-für-uns ist schlicht die Welt, also die Welt so, wie sie für uns Menschen erscheint, die Welt, die wir mit Bedeutung und Sinn belegen. Es ist die Welt, in der wir Menschen eigentlich im Mittelpunkt stehen, insofern unser Bezug zu dieser Welt immer über uns läuft. In dieser Welt gibt es nicht nur die Schobermesse, sondern auch Shakespeare, Marvel-Comics und Gottesdienste. Daneben gibt es aber noch die Welt so, wie sie an-sich ist, also eigentlich die Welt, die wir entdecken, wenn wir uns ihr als etwas Unbekanntem nähern - bspw. in der Naturwissenschaft. Diese Welt-an-sich nennt Thacker auch die Erde, von der wir durch Forschung wissen, dass es sie auch schon vor uns gegeben hat und dass es sie nach uns geben wird - in welcher Form auch immer. Sie ist das Objekt der Biologie, der Chemie oder auch der Geologie.

Nun ist es allerdings so, dass die Welt aufhört, an-sich zu sein, sobald wir versuchen sie zu denken, denn dann belegen wir sie ja wieder mit Bedeutung und machen so wieder eine Welt für-uns aus ihr. Es ist sogar ein wesentliches Charakteristikum des Menschen, sich das Unbekannte, das Nicht-Menschliche, das an-sich einverleiben zu wollen, indem er es auf sich selbst bezieht. Ich gebe ein Beispiel: obwohl wir alle wissen, dass die Erde sich nicht nur um die Sonne sondern auch um sich selbst dreht, sprechen wir weiterhin von Sonnenauf- und Sonnenuntergängen. Dieser Begriff ist vom Standpunkt der Welt-an-sich aus natürlich vollkommener Unfug, macht aber Sinn im Kontext der Welt-für-uns. Soweit, so gut.

Nun gibt es jedoch Momente, in denen die Welt-an-sich sich sozusagen dagegen wehrt, zur Welt-für-uns gemacht zu werden. In diesen Momenten tritt hinter der Welt-an-sich eine ganz andere Welt auf, die verborgen und unbekannt, die nicht-menschlich ist. Thacker nennt diese Welt die Welt-ohne-uns, oder anders gesagt den Planeten. Welt, Erde und Planet also. Aber was hat das mit dem Zeitgeschehen zu tun?

Welt-ohne-uns

Wenn man die Bilder betrachtet, die uns die Space-X-Mission übermittelt hat, wenn man in diese unendliche Schwärze blickt, die unseren blauen Planeten umgibt, dann sieht man sich eindrucksvoll mit dieser Welt-ohne-uns konfrontiert. Wir bewohnen einen winzigen Planeten, einen von unendlich vielen anderen, in einem gigantischen All, dessen Umfang unser Verstand nur schwer zu erfassen vermag und von dem wir eigentlich kaum etwas wissen.

Sicher, von der Perspektive der Welt-für-uns aus gesehen ist jede Raumfahrtmission ein Triumph des menschlichen Geistes über die Naturkräfte. Aber was bedeutet sie von der Perspektive der Welt-ohne-uns, also von einer kosmologischen Perspektive aus? Nun, von einer kosmologischen Perspektive aus hat das menschliche Streben überhaupt keine Bedeutung, denn da ist schließlich gar niemand, der Bedeutung verleihen könnte.

"Le silence éternel de ces espaces infinis m'effraye", schrieb Blaise Pascal bereits im 17. Jahrhundert und benannte damit das Gefühl, das wir angesichts der Welt-ohne-uns empfinden: die Angst. Es ist diese Angst, die uns dazu drängt, das Unbekannte nahbar und verständlich zu machen, indem wir es in Erklärungs- und Bedeutungsschemen einfügen.

So ist die Space-X-Mission für Elon Musk und die NASA bspw. ein Schritt hin zur Reise zum Mars, was wiederum ein Schritt hin zu dessen Kolonisierung ist, was wiederum ein Schritt hin zu menschlichem Leben außerhalb der Erde ist etc. etc. Das Problem bleibt aber dasselbe: wie sollen wir damit umgehen, dass wir in einer Welt leben, die immer schon da war, die auch nach uns fortbesteht und die uns gegenüber gleichgültig ist, die uns wirklich nicht braucht?

Gleichgültigkeit der Welt

Wir leben in einer Zeit, in der die Gleichgültigkeit der Welt uns gegenüber immer stärker zutage tritt. Ich denke da natürlich an die vom Coronavirus ausgelöst Krise, die uns offenbart, dass wir, die vermeintliche Krönung der Schöpfung, fragile Lebewesen sind, deren Existenz keine Selbstverständlichkeit ist. Ich denke ebenfalls an die menschengemachte Klimakrise, die eine noch viel umfangreichere Bedrohung unserer Existenz darstellt, auf die erstaunlicherweise aber noch weniger reagiert wird. In beiden Fällen wird spürbar, dass die Welt-für-uns nicht alles ist, dass es einen Bereich gibt, der sich unseren Versuchen entzieht, ihn mit Sinn zu belegen. Dieser Bereich ist die Welt-ohne-uns und mit ihr müssen wir nun leben.

Soweit ich sehe müssen wir diese Herausforderung noch meistern und noch lernen, z. B. politisch mit ihr umzugehen. Es ist schließlich kein Zufall, dass sowohl in Bezug auf die Klimakrise wie auch in Bezug auf Covid die Verschwörungstheoretiker Hochkonjunktur haben. Auf die Unverständlichkeit und Verborgenheit der Welt reagieren wir Menschen allzu oft mit Denkmodellen, die diese Unverständlichkeit und Verborgenheit kopieren, bspw. in Form von Geheimgesellschaften wie den Illuminati, in Form von Bill Gates und Impfchips, in Form von Rothschild-Komplotten und sonstigem Irrsinn.

Die Verschwörungstheorie ist bei genauerer Hinsicht jedoch nichts weiter als der ebenso verzweifelte wie lächerliche Versuch, Sinn dort zu suchen, wo es gar keinen Sinn geben kann. Sinn ist eine menschliche Kategorie, aber in der Welt-ohne-uns gibt es weder Sinn, noch Bedeutung, weder Entwicklung, noch Ziel.

Die Sinnlosigkeit neben uns existieren lassen, ohne sie irgendwie in unsere Denkschemen forcieren zu wollen - ich denke darin besteht eine aktuelle und sehr spannende Herausforderung für uns Menschen. Schließlich sind wir nur Gäste auf diesem Planeten, den es auch noch geben wird, wenn wir nicht mehr existieren, bis er dann irgendwann auch nicht mehr existiert. Was dann bleibt, ist das, was unendlich lange vorher schon da war, nämlich die Welt-ohne-uns.