Das alte Zugticket
Vor kurzem nahm ich ein Buch aus meiner Bibliothek, das ich schon länger nicht mehr geöffnet hatte, es war ein bisschen staubig und von der Sonne vergilbt, aber ich hatte gute Erinnerungen daran. Ich schlug es auf, blätterte ein wenig darin herum, bis auf einmal ein Zugticket zwischen den Seiten auftauchte. Das Ticket war ziemlich genau elf Jahre alt, nämlich aus dem September 2012 - ein Zugticket der SNCF für eine Fahrt von Paris nach Strasbourg. Und auf einmal war wieder alles da: ich sah mich eben dieses Buch in einer Buchhandlung in Paris kaufen, ich erinnerte mich daran, dass ich das Buch im Zug lesen wollte, es aber nicht tat und ich erinnerte mich daran, wer damals in Strasbourg auf mich wartete und warum ich dort hin fuhr. Und mir wurde vor allem bewusst, wieviel Zeit seitdem verstrichen ist, was zwischen diesem Zugticket und jetzt alles geschehen ist, was ich seitdem erreicht und was und wen ich seitdem alles verloren habe. Ich wurde mir der Veränderung bewusst.
Identität und Veränderung
Das mag sich banal anhören, aber ich denke dass die Veränderung nichts ist, was wir uns ständig vor Augen führen, was in solchen Momenten aber ganz akut zu Tage tritt. Vor allem der eigenen Veränderung werden wir uns dann plötzlich bewusst - und die (so meine ich zumindest) blenden wir meist aus. Das hat damit zu tun, dass die eigene Veränderung eigentlich ein Paradox darstellt. Für mich bleibe ich ja immer identisch: ich war es schließlich, der das Ticket damals gekauft hat und ich bin es jetzt wiedergefunden hat. Ich bin ich. Zugleich - und hier liegt das Problem - bin ich ganz klar und eindeutig nicht mehr derselbe wie damals. Wie kann ich ich selbst bleiben, und mich dennoch grundlegend verändern? Veränderung stellt unser Konzept von Identität in Frage, denn offensichtlich bin ich derselbe und ein anderer zugleich: Je est un autre um es mit Rimbaud zu sagen. Zwar haben sich durchaus einige Sachen an mir durchgehalten, aber es ist schwer zu benennen, was genau.
Pantha Rei
Das sich alles ändert, das ist eine alte Weisheit, so alt, dass sie schon die vorsokratischen Philosophen im 6. Jahrhundert v.Chr. theorisierten. Man denke an Heraklit und sein Motto panta rhei, also "alles fließt". Heraklit sagt in einem berühmten Aphorismus, dass man nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann, und er meint damit eben genau das, panta rhei alles fließt, alles ist in einer ständigen Bewegung, jede Stabilität, jede Identität, jede Fixität ist nur eine Illusion. Alles ist in einem ständigen Wechsel befangen, natürlich auch wir Menschen. Das einzige, was sich nicht ändert, ist eben dieser Wechsel selbst und die Logik, der dieser Wechsel unterliegt. Das hört sich kryptisch an, ist aber ganz einfach übertragbar. Die Natur ändert sich ständig, aber die Gesetze, der die Natur gehorcht, die bleiben identisch.
Alles fließt - außer das Ufer
Aber das Zugticket rief mir noch etwas anderes in Erinnerung. Ich musste daran denken, dass alles, was wir jetzt gerade tun, all diese kleinen Banalitäten wie eben ein Zugticket in ein Buch zu legen, dass die in der Zukunft wieder auftauchen und uns an eben diesen Moment erinnern. Hier ist die Frage nicht mehr, Wer war ich damals?, sondern, Wer werde ich sein? Wer werde ich sein, wenn ich dieses dicke Buch zu Ende gelesen habe? Wer werde ich sein, wenn ich dieses Projekt auf der Arbeit endlich hinter mich gebracht habe? Wo und wie bin ich in 11 Jahren? Worum es bei all dem geht, ist der menschliche Wille, die Zeit einzufangen und sie zu beherrschen - was schlicht unmöglich ist. Stattdessen schießen wir Fotos von unseren Kindern und uns selbst, wir feiern Feste, wir begehen Zeremonien und Rituale, wir machen uns gute Vorsätze und wir schwelgen in Erinnerungen. Wir halten damit nicht die Zeit an - das ist (wie du richtig sagst) unmöglich. Wir versuchen dadurch vielmehr den Weg nachzuvollziehen, den wir schon gemacht haben, wir versuchen uns selbst in der Zeit zu orientieren. Und wir versuchen abzuschätzen, mit welchem Elan es von hier aus in die Zukunft geht. Um in der Metapher von Heraklit zu bleiben: wir können zwar nicht zweimal in denselben Fluß steigen, alles fließt aber wir können immer wieder an dasselbe Ufer schwimmen und von dort aus den Fluß betrachten. Mein Ufer war eben ein altes Zugticket in einem ungelesenen Buch. Das Ticket habe ich übrigens schon wieder verlegt. Ich freue mich aber schon darauf, es in ein paar Jahren wieder zu finden, und mich am diesem Ufer kurz auszuruhen.