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Seismograph

Gentle Reminder

Hutt dir och schonn emol e sougenannten "Gentle Reminder" kritt, also eng léif gemengten Erënnerung? Dobäi ass meeschtens eng Erënnerung iwwer Mail un e Meeting, e RDV oder soss eng aner Saach gemengt. Mee ass et net komesch, datt mir eis an eisem beruffleche Kontext esou "douce" Noriichte schécken?

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3 min

Mir persönlich graust es ja vor diesen "Gentle Reminders", weil sie mich natürlich daran erinnern, dass ich etwas noch nicht gemacht habe. Denn ob nun sanft oder nicht: hinter dem Gentle Reminder steckt zunächst einfach einmal der Wunsch des Senders, die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich oder auf seine Belange zu ziehen. Ob es nun ein Meeting, ein Fragebogen, ein Doodle oder eine einzureichende Projektskizze sei: der Gentle Reminder erinnert daran, dass da etwas ansteht. Das heisst mir wird in diesem Moment Verantwortung übertragen - und das empfinden wir als unangenehm.

Einseitige Sanftheit

Tatsächlich lässt diese Wortkonstruktion aufhorchen, denn die Verbindung zwischen Erinnerung und Sanftheit, die ist wirklich nicht intuitiv. Vor allem, da man es bisher vornehmlich mit unschönen Wörtern wie "Cut-Off-Date" oder "Deadline" zu tun hatte. Der Gentle Reminder will anders sein. Er schreit nicht einfach "Denk dran!" oder "Mach das jetzt!". Nein, der Gentle Reminder schleicht sich auf Zehenspitzen in deine Mailbox, tippt dir sanft an die Schulter und flüstert dir leise ins Ohr: "Du hast sicherlich schon selbst daran gedacht, aber falls es dir entgangen sein sollte, möchte ich dich daran erinnern, dass...". Der Gentle Reminder entschuldigt sich sozusagen bereits im Vorfeld dafür, dass er überhaupt existiert. Aber um auf deine Frage zu kommen: das macht die Sache nicht besser - ganz im Gegenteil. Denn während die einfache Erinnerungsmail mir es überlässt, von ihr zu halten, was ich will, nimmt mir der Gentle Reminder diese Möglichkeit im Vorhinein. Das heißt Sanftheit wird hier völlig einseitig definiert. Und das obwohl sie, ebenso wie alle Charaktereigenschaften, eben nicht einseitig behauptet werden kann. Ich kann ja auch nicht durch die Welt laufen und von mir behaupten, ein gutmütiger und sanfter Mensch zu sein, wenn alle anderen das Gegenteil von mir denken.

Permanente Erwartungshaltung

Warum brauchen wir den Präfix "gentle"? Vielleicht, weil die Sache an sich eben faul ist, und wir sie deshalb in Zuckerwatte einpacken müssen. Das tiefere Problem besteht offensichtlich in den ständigen Benachrichtigung, die uns in einen permanenten Aufmerksamkeits- und Erwartungszustand versetzen. Im Durchschnitt erhalten Werktätige 15 berufliche Mails am Tag. Dieser Zustand ermüdet uns physisch und psychisch und macht uns dadurch paradoxerweise immer unaufmerksamer - auch für all die Erinnerung, die wir tagtäglich erhalten. Das heißt: je mehr wir erinnert werden, desto weniger erinnern wir uns. Die vermeintliche Sanftheit drapiert also das tieferliegende Problem der Überkommunikation und der ständigen Erwartungshaltung, die wir gegenüber anderen entwickeln. Wenn ich jemandem eine Erinnerung schicke, dann versetze ich mich in eine Erwartungshaltung ihm oder ihr gegenüber, was heißt, ich zwinge die Person dazu, Stellung zu nehmen.

Falsche Entschuldigung

Tatsächlich hat die Sanftheit längst ihren Weg in das Business-Sprech gefunden. Heute ist die Rede von "Gentle Leadership", übrigens gepaart mit den dazugehörigen "Gentle techniques for positive growth" (was man sich mal auf der Zunge zergehen lassen muss: sanfte Techniken für positives Wachstum); man spricht auch von "Gentle Power", von "Gentle Marketing", usw. Das Wörtchen "gentle" soll ausdrücken, dass man es hier zu tun hat einem allgemein offeneren und aufmerksameren, vor allem aber empathischen und - auch ein Schlagwort - humanerem Verhalten. Das alles in Kontrast zu einem harschen, autoritären, sicherlich auch patriarchalischen Führungsstil. Begleiten statt führen, zuhören statt kommandieren: das sind die Kennzeichen eines sanften Führungsstils. Aber Gentle Power kommt halt doch wieder nur von oben, und auch Gentle Leaders können Arbeitnehmern kündigen, Budgets kürzen und einseitig entscheiden. Der Präfix "sanft" reicht natürlich nicht aus, um irgend etwas zu verändern, sondern nur, um sich zu entschuldigen. Sich zu entschuldigen dafür, dass dann doch alles beim alten bleibt - und das ist noch nicht einmal eine aufrichtige Entschuldigung. Ebenso wie der Gentle Reminder, der sich dann doch wieder nur dafür entschuldigt, im Grunde genommen unnötig zu sein.