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/ Liewensgeschichten aus dem Minett

Zäithistoriker

Liewensgeschichten aus dem Minett

Am Projet "Historical Voices from the Minett" vum C2DH geet et ëm Liewensgeschichten aus dem Minett, no deene laang recherchéiert gouf an déi multimedial presentéiert ginn.

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5 min

"Wie die meisten Menschen, mag ich Geschichten. Geschichten aus dem echten Leben. [...] Historische Erkenntnisse verbergen sich natürlich nicht nur in den Verwaltungsberichten, die in den Archiven liegen. Und lebendig wird Geschichte sowieso erst durch die öffentliche Diskussion, durch die gemeinsame Erinnerung an vergangene Ereignisse und Personen."

Mit diesen Worten lud Anna, eine fiktive Historikerin und Teil unserer Videoinstallation, die im September und Oktober 2020 auf dem Escher Brillplatz präsentiert wurde, die Zuschauerinnen und Zuschauer ein, uns ihre Geschichten zu erzählen und sich an unserer Geschichtswerkstatt in der Annexe22 zu beteiligen.

Komplettes Panorama einfangen

Wir wollten mit Menschen aus der Region ins Gespräch kommen und sie animieren, uns alte Fotoalben und andere Dokumente aus ihrem Leben und dem ihrer Familien zu zeigen. Diese persönlichen Lebensgeschichten sollten die Geschichtsschreibung der Minett erweitern.

Denn auch wenn die Geschichte der Region vor allem durch die Eisen- und Stahlproduktion gekennzeichnet ist, spielten nicht nur Industrielle wie Emil Mayrisch oder Unternehmen wie die ARBED eine Rolle, sondern auch Arbeiterinnen und Arbeiter, die zum Teil aus anderen Ländern in die Region kamen und den Aufstieg und das Funktionieren dieser Industrien ermöglichten. Dazu gehörten aber auch Ladeninhaber und Cafébetreiberinnen oder gewerkschaftliche Aktivisten - kurz: alle Menschen, die hier leben und gelebt haben.

Genau diese Menschen wollten wir in unserer Geschichtswerkstatt begrüßen. Als Teil der Geschichtswerkstatt re-inszenierten wir die "Action Auto-portrait" des Fotoclub Diddeleng von 1981, bei der sich die Besucherinnen und Besucher mit einer analogen Kamera mit Fernauslöser selbst fotografierten und damit bestimmten, welches Bild von ihnen festgehalten wurde. In einer anderen Aktion konnte unser Publikum mit einem alten Plattenschneidegerät kurze Nachrichten auf extra angefertigten Postkarten aufnehmen, womit sich die historischen Bilder der Minett, die darauf abgebildet waren, mit zeitgenössischen Stimmen der Region verbanden.

Ein Eckpfeiler der Geschichtswerkstatt war unsere interaktive Videoinstallation, die sechs verschiedene Charaktere der Minett präsentierte: teilweise reale historische Figuren, wie der Mediziner Léon Molitor oder die Kommunistin Yvonne Useldinger und teilweise auf historischen Gegebenheiten basierende semi-fiktive Charaktere, wie Bergarbeiter, Migranten, Amateurfotografen und die eingangs vorgestellte Historikerin Anna.

Die aus der Ich-Perspektive erzählten Lebensgeschichten sollten, wie Anna beschrieb, zeigen, "wie Menschen ihre Sorgen oder Werte zum Ausdruck bringen und ihnen Sinn geben, aber auch [...] wie einzelne Menschenleben auf die größeren historischen Gegebenheiten einwirken und gleichzeitig von ihnen beeinflusst sind."

Geschichtswissenschaft für die breite Öffentlichkeit

Die Geschichten, die diese Charaktere auf Luxemburgisch, Deutsch, Französisch und Italienisch erzählten, basierten auf unserer historischen Forschung, Quellen aus Luxemburger Archiven, alten Zeitzeugen-Interviews sowie zeitgenössischen und aktuellen Veröffentlichungen. Gemeinsam mit der Mailänder Künstlerin Chiara Ligi und Tokonoma, einem Kollektiv aus Künstlerinnen und Künstlern, wurden die Geschichten visualisiert und zu einem interaktiven Erlebnis gemacht.

Die Videos wurden jeden Abend in Lebensgröße auf der Fassade der Annexe22 gezeigt und die Besucherinnen und Besucher konnten dadurch, wo sie sich hinstellten, bestimmen welche der Charaktere ihnen ihre Lebensgeschichte erzählte.

Während die gezeichneten und animierten Figuren erzählten wurden die verschiedenen Episoden durch historische Fotos und Dokumente, Hintergrundgeräusche und andere Illustrationen untermauert. Dies alles vor einer Collage alter Fotos aus der Minett. Durch diesen Mix aus historischen Bildern und Animationen, war es uns möglich, der Öffentlichkeit Geschichten, über die wir teilweise selbst keine audiovisuellen Quellen besaßen, eindrücklich in Bild und Ton näher zu bringen.

Schließlich wollten und wollen wir nicht nur die heutige Bevölkerung und ihre privaten Familiengeschichten in unserer Forschung berücksichtigen, sondern Geschichtswissenschaft auch so präsentieren, dass sie für eine breite Öffentlichkeit verständlich und interessant ist.

Lebensverhältnisse der Migranten in Esch

Die historischen Figuren thematisierten ganz unterschiedliche Aspekte der Regionalgeschichte. So war Léon Molitor mit seinen Kollegen einer der ersten, der bereits in den 1950er Jahren das Thema der Luftverschmutzung untersucht hat.

Basierend auf eigenen Messungen und den seinerzeit bekannten Gesundheitsgefahren der Luftverschmutzung in Lüttich und London, wies er auf die negativen Auswirkungen der lokalen Industrie und des motorisierten Verkehrs auf die Gesundheit der Menschen und besonders der Kinder hin und mahnte Politiker und Industrielle zur Vorsicht.

Während Léon Molitor eine historische Persönlichkeit war, basiert der Charakter des Stefano auf mehreren Personen, da es oftmals schwierig ist, aus den vorhandenen Quellen eine einzelne durchgängige Lebensgeschichte zu rekonstruieren. Stefano kam Ende des 19. Jahrhunderts als Kleinkind mit seinen Eltern aus einem kleinen Ort in Umbrien nach Luxemburg.

Sie wohnten im Haus seiner Tante in der Rue des Boers, in dem noch rund 20 weitere Menschen, teils Familienmitglieder, teils Migranten aus demselben Dorf, lebten. Stefanos Geschichte berichtet von den Wohn- und Lebensverhältnissen der italienischen Migranten in Esch. Sein Vater arbeitete in einer Mine, während seine Mutter und Tante für die zahlreichen Kostgänger kochten und wuschen, um das Familieneinkommen zu verbessern. Während die Mitbewohner kamen und gingen, wurde Stefanos Familie in Esch sesshaft.

Geschichten des erfolgreichen sozialen Aufstiegs

Als bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs die meisten Italiener das Land verließen, entschied sich Stefanos Vater zu bleiben und kaufte seinem Schwager das Haus ab. Stefano ging in Luxemburg zur Schule und beschloss danach, dass er nicht wie sein Vater in den Minen arbeiten wollte. Stattdessen gelang es ihm, Handwerker zu werden und seinen eigenen Malerbetrieb in der Rue de l'Industrie zu eröffnen.

Stefanos Geschichte ist also eine Geschichte des erfolgreichen sozialen Aufstiegs, die zwar nicht stellvertretend für die italienische Migration nach Luxemburg steht, dafür aber über allgemeinere Themen wie prekäre Saisonarbeit, beengte Wohnverhältnisse, weibliche Erwerbsarbeit und misslungene wie auch erfolgreiche Integration berichtet.

Die anderen Figuren der Videoinstallation erzählten von den Arbeitsbedingungen in den Erzminen der Minett, vom kommunistischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung und von der schwierigen Suche nach individueller und kollektiver Identität in Zeiten des industriellen Niedergangs in den 1980er Jahren.

Diese und andere Geschichten werden wir im kommenden Jahr auch in einer Multimedia-Ausstellung in der Massenoire auf Belval, die ebenso gemeinsam mit Tokonoma konzipiert wurde, und einer virtuellen Ausstellung unseres Instituts präsentieren. Dazu arbeiten wir derzeit an neuen historischen Erzählformaten wie zum Beispiel einem Kurzhörspiel oder einer Graphic Novel.