Radioen

On air

Notturno  |  Pino Palladino, Blake Mills - Just Wrong

play_arrow Live
arrow_back_ios

100komma7.lu

100komma7.lu

/ Hegels Philosophie des Werdens

Prisma

Hegels Philosophie des Werdens

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde vor 250 Jahren in Stuttgart geboren. Anlässlich dieses Jubiläums werden im Prisma einige wesentliche Stationen aus seinem Denken vorgestellt - ein Denken, an dem sich auch heute noch die Geister scheiden und das nichts an seiner Faszination eingebüßt hat. In der ersten Folge geht es darum, dass die Welt Denken ist - so meint es zumindest Hegel.

auto_stories

6 min

Der Philosophe Lukas Held stellt das Denken von Georg Wilhelm Friedrich Hegel vor. Foto: Archiv

Hegel in den Bergen

Ich gestehe es frei heraus: von dem Hegel-Kurs, den ich während meines Studiums belegen musste und der jetzt auch schon etliche Jahre zurückliegt, ist nicht allzu viel hängen geblieben. Bis auf eine Sache, die ich komischerweise nie vergessen habe: dass Hegel nämlich die Berge und vor allem das Wandern im Gebirge zutiefst verabscheute. Allein den Flüssen und Bächen - also allem Fließenden - konnte er etwas abgewinnen.

Ich habe das mal nachgeschlagen, und es gibt tatsächlich eine Passage in seinem Reisetagebuch, in der Hegel eine Bergwanderung durch die Alpen im Sommer 1796 beschreibt. Hegel schreibt dort:

"Weder das Auge noch die Einbildungskraft finden auf diesen formlosen Massen irgendeinen Punkt, auf dem jenes mit Wohlgefallen ruhen, und wo diese Beschäftigung oder ein Spiel finden könnte. [...] Der Anblick dieser ewig toten Masse gab mir nichts als die einförmige und [...] langweilige Vorstellung: es ist so."

Nun sollte man in derlei sympathische Anekdötchen nicht allzu viel hinein interpretieren, aber mir scheint, dass hier dennoch ein wichtiger Aspekt des hegelschen Denkens aufblitzt. Wenn man seine Philosophie einmal auf einen Slogan herunterbrechen müsste (was man natürlich niemals tun sollte), so könnte man sagen, Hegel sei der Philosoph des Werdens, also eben des Gegenteils des "es ist so".

Tatsächlich taucht das Motiv des Werdens an zahlreichen Stellen in seinem Werk auf. Insofern ist Hegel ein Kind seiner Zeit, denn man kann die Epoche, in der Hegel lebte und dachte, mit Fug und Recht als eine Epoche des Werdens bezeichnen.

Warum? Nun, vor rund 250 Jahren, also zu der Zeit, als Hegel in Stuttgart das Licht der Welt erblickte, begann der Aufstand des Bürgertums gegen den Adel und gegen dessen umfangreiche Privilegien, also gegen ein "es ist so" das gesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten legitimierte und dabei unterstützt wurde vom anderen großen "es ist so", nämlich der Kirche.

Es war die Einsicht, dass die Dinge eben nicht einfach so sein müssen, sondern auch anders werden können, die den Antrieb für die amerikanische, die französische, die haitianische und die bolivarische Revolution bildete.

Diese weltgeschichtlichen und zugleich menschgemachten Ereignisse wurden von Hegel übrigens begeistert rezipiert und interpretiert. Hegel ist nämlich ein Philosoph, der wie selten ein anderer vor ihm in, mit und über seine Zeit und deren politische und gesellschaftliche Umwälzungen nachdachte. Aber dazu später mehr.

Philosophie des Werdens

Bleiben wir zunächst einmal bei dieser Philosophie des Werdens und stellen uns die Frage, was das eigentlich ist, dieses Werden. Nun, etwas, das wird, befindet sich ja in einer Art Schwebe zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein.

Es ist nicht mehr das, was es war, aber zugleich ist es noch nicht das, was es einmal sein wird: es wird halt. Insofern sich das Bestehende auflöst, um zu etwas anderem zu werden, haben wir es hier mit einem fließenden Prozess, mit einer Bewegung zu tun. Wir kennen solche Prozesse ja aus der Natur, wo aus einem Ei eine Raupe, aus einer Raupe eine Puppe und aus einer Puppe dann ein Schmetterling wird. Eigentlich kann man sagen, dass die ganze Natur ein ständiges sich Bewegen und Entwickeln ist.

Hegel geht es in seiner Philosophie aber nicht um Schmetterlinge, und auch nicht um die Natur (und schon gar nicht um Berge) - nein: ihm geht es um eine andere Form des Werdens, nämlich das Werden im Denken, also im Geistigen oder auch im Begrifflichen.

Es dürfte Ihnen, liebe LeserIn, sicherlich etwas eigenartig vorkommen, dass ein Denker des Werdens ebendieses nicht dort sucht, wo man es ja offensichtlich antrifft, also in der Außenwelt, und sich anstelle dessen nur mit Begriffen beschäftigt. Und damit haben Sie auch recht, schließlich ist ein Begriff ja immer eine Art Kopie der Sache und es ist sicherlich angenehmer, sich mit der Realität des Eisessen zu befassen, anstatt nur mit dem Begriff "Eisessen".

Naja so einfach ist es dann auch wieder nicht. Hegel und seine Zeitgenossen, die man im Nachhinein "deutsche Idealisten" genannt hat, sind der Ansicht, dass man nicht so leichtfertig den Begriff von der von ihm bezeichneten Wirklichkeit trennen sollte. Sie sind vielmehr der Meinung, dass die Begriffe eigentlich erst die Wirklichkeit schaffen.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: stellen Sie sich vor, Sie betreten eine Kathedrale, Sie blicken sich um, spazieren durch die Gänge, setzen Ihre fragmentarischen Eindrücke zu einem immer deutlicher werdenden Bild zusammen, bis Sie schließlich begreifen, was sie da vor sich haben. Sie haben nun einen Begriff dieser Kathedrale; mittels Ihrer Vernunft haben Sie diesen Begriff gebildet - und erst jetzt macht diese Sammlung von Eindrücken Sinn, erst jetzt existiert sie für Sie. Denken und Sein treten hier in ein Wechselverhältnis, und Begriffe sind dann nicht einfach nur Kopien der Außenwelt, sondern sie strukturieren unsere Wirklichkeit.

Das gilt ja auch für die Naturwissenschaft, die ja andauernd mit abstrakten Entitäten wie Naturgesetzen und Zahlen arbeitet. Man muss sich dabei immer vor Augen halten, dass es diese Dinge - die Zahl 4, das Gravitationsgesetz, die Thermodynamik, etc. - eigentlich gar nicht gibt, so wie es z.B. Schafe oder Bierflaschen gibt. Dennoch sagen sie nicht nur etwas über die Wirklichkeit aus, sondern strukturieren diese Wirklichkeit, ja sie erschaffen die Wirklichkeit als ein sinnvolles Gebilde - so wie der Begriff "Kathedrale" aus den Fragmenten und Eindrücken erst etwas Sinnvolles macht.

Verweilen wir noch einen Moment in unserer Kathedrale. Sie, liebe LeserIn, sind nicht die erste Person, die sich einen Begriff von diesem Gebäude gemacht hat, sondern unzählige andere waren schon vor Ihnen dort und werden nach Ihnen kommen.

Das bedeutet, dass es ganz viele verschiedene Begriffe von dieser Kathedrale gibt, die sich allemal dieser Sache annähern, sie zugleich aber auch verfehlen. Dadurch entsteht nun eine gewisse Dynamik, weil das Denken - also all die Begriffe, die wir uns von den Dingen machen - sich immer wieder an der Welt stößt und sich dann wieder an die Welt anpassen muss, ebenso wie die Welt durch die Begriffe, die wir von ihr haben, wieder verändert wird. Und eben das ist der Grund, weshalb Hegel das Werden nicht in der Außenwelt sucht, sondern im Denken selbst.

Was Hegel nämlich interessiert, ist der Prozess des allmählichen Sich-Bewusst-Werdens der Welt im Denken. Man könnte auch sagen, dass für Hegel die Welt Denken ist, und das Denken Welt macht.

"Ihre Zeit, in Gedanken erfasst"

Jetzt lässt sich besser nachvollziehen, weshalb Hegel die revolutionären Ereignisse seiner Zeit so emphatisch rezipierte, ja weshalb sein Denken gar nicht zu trennen ist von diesen politischen Umwälzungen. Hegels berühmter Ausspruch, Philosophie sei "ihre Zeit in Gedanken erfasst" bezeichnet eben, dass es die Aufgabe des Philosophen sei, die Ereignisse zu begreifen, und durch seine Begriffe der Wirklichkeit ein neues Selbstverständnis zu geben - bis sich diese Wirklichkeit dann wieder von den Begriffen emanzipiert und neu begriffen werden muss.

Man sieht bereits an diesem kurzen Überblick, dass Hegel kein leicht verständlicher Philosoph ist. Seine "Phänomenologie des Geistes", die er 1807 veröffentlichte, zählt zu den komplexesten Werken der Philosophiegeschichte und treibt alljährlich unzählige Philosophiestudierende in die Verzweiflung.

Mein persönlicher Tipp: man sollte von Hegel nicht erwarten, dass er uns auf einem sicheren Pfad hinauf zum Berggipfel führt, um dort den vermeintlichen Überblick zu haben, nach dem wir uns ja alle irgendwie sehnen. Hegel eignet sich nicht zum Bergführer - vielleicht eher zum Bademeister, der uns lehrt, wie man sich vom Fluss tragen lässt. Aber diese Metapher will ich jetzt nicht zu Ende denken.