Mit Gedichten ist es so eine Sache. Wir lesen sie in der Schule, aber danach nur noch selten. Auch mit Gedichtbänden ist es so eine Sache. Sie stehen geduldig im Bücherregal. Manchen mag es so gehen wie mir: Wir warten ab auf einen ruhigen Tag, einen heiligen Moment, der uns einlädt, ein Gedicht zu lesen oder gar zu lernen. Doch dieser Moment kommt nie. Gedichte verschwinden so aus unserem Leben.
Nun gibt es eine gute Gelegenheit, das zu ändern: Federico Italiano und Jan Wagner haben ein beeindruckendes Werk vorgelegt. Es heißt "Grand Tour - Reisen durch die junge Lyrik Europas" und ist im deutschen Hanser Verlag erschienen. Die beiden Poeten haben die Gedichte von 400 jungen Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa darin versammelt. Die Texte findet man in Originalsprache und in deutscher Übersetzung.
Es ist ein wunderbares Buch, aus zwei Gründen: Zum einen ist es ansprechend gestaltet. Buchdruck und Buchgestaltung auf höchstem Niveau. Zum anderen erfreuen die Gedichte darin. Mit einem Seitenschlag wechselt man vom Isländischen zum Rumänischen, oder vom Litauischen zum Katalanischen. Die Gedichte sind nicht geographisch oder thematisch geordnet, eher zufällig. So findet sich Luxemburg zusammen mit England, Israel, Dänemark, Österreich, Kroatien und Russland in einem der sieben großen Abschnitte des Buches.
"Grand Tour"
Diese Abschnitte werden im Buch Reisen genannt. Daher stammt auch der Titel des Buches: "Grand Tour". Die Grand Tour war, vor allem im frühen 18. Jahrhundert, die klassische Bildungsreise für junge Adelige, aber auch für Künstler und Intellektuelle, vor allem nach Italien, mitunter aber auch nach Paris und London, nach Athen, Istanbul und Amsterdam, um die dortige Architektur, Kunst und Kultur kennenzulernen. Daran knüpft dieses Buch an.
Man darf den Gedichten nicht mit allzu viel Respekt begegnen. Manche von ihnen sind langweilig. Andere Texte aber konnten mich verführen und inspirieren. Ich glaube, man sollte dieses Buch nicht in heiligen Momenten lesen, die es sowieso nicht gibt, sondern beim Frühstück, im Bus, am Wochenende. Man sollte dieses Buch für 36 Euro kaufen und darin blättern, schreiben, Eselsohren machen. Man kann es auch in der Nationalbibliothek ausleihen, sie haben dort sieben Exemplare gekauft, aber die Bibliothek zieht ja gerade um, daher empfehle ich den persönlichen Kauf.
Luxemburger Beteiligung
Zwei Luxemburger sind in dem Band zu finden und ein weiterer Poet, der aus Malta stammt, aber in Luxemburg lebt. Ihre Sprachen sind Maltesisch und Französisch. Das ist schön und schade zugleich, denn so gibt es kein Gedicht in luxemburgischer Sprache. Die Namen der drei Zeitgenossen finden Sie im Buch. Mehr sei nicht verraten. Und was ist mein persönliches Lieblingsgedicht? "Die Nacht im Naturkundemuseum" von Tomica Bajsić, übersetzt aus dem Kroatischen. Seite 221. Ich wünsche Ihnen eine gute Reise, eine wunderbare Grand Tour.
Bibliographie:
Grand Tour: Reisen durch die junge Lyrik Europas: im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung / herausgegeben von Federico Italiano und Jan Wagner; München, Carl Hanser Verlag, 2019.
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