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Hebammenkunst

Enn lescht Joer huet d’Unesco d’Hiewanekonscht zum immateriellt Kulturierwe vun der Mënschheet deklaréiert. Och op Demande vu Lëtzebuerg hin. D’Hiewanekonscht ass een Handwierk, dat sech iwwer Joerhonnerten iwwerliwwert an ugeräichert huet. Et gëtt awer och eng philosophesch Dimensioun vun der Hiewanekonscht.

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Ich habe meine Urgroßmutter leider nicht mehr kennen gelernt, sie starb viele Jahre vor meiner Geburt. Aber ich habe viele Geschichten über sie gehört, so dass ich mir ein Bild von dieser Frau machen konnte. Meine Urgroßmutter fuhr ein Motorrad der Marke Wanderer, mit dem sie bei Wind und Wetter unterwegs war. Sie war die einzige Frau in der Gegend, die dieses Privileg hatte. Sie besaß als erste Person überhaupt im Dorf ein Telefon. Sie sprach Deutsch, Französisch und Wallonisch, und wohl auch ein bisschen Englisch, das sie von den Amerikanern aufgeschnappt hatte.

Meine Urgroßmutter war eine intelligente und ziemlich mutige Frau. Zur Zeit der Rundstedtoffensive im Jahre 1944, als die Frontlinie quer durch Ostbelgien lief und die Menschen in ihren Kellern nicht wusste, ob gerade deutsche oder amerikanische Soldaten durch ihre Küchen stampften, in dieser Zeit fuhr meine Urgroßmutter mit ihrem Motorrad durch die Front hindurch, zwischen den Fronten hin und her. Denn sie wurde dringend gebraucht, egal auf welcher Seite. Meine Urgroßmutter war Hebamme, sie war DIE Hebamme, denn es gab nur eine in der ganzen ländlichen Gegend, und in einer Zeit, in der die Frauen noch zu Hause gebaren, war ihre Anwesenheit unerlässlich. Es ist deshalb keine posture wenn ich sage, dass der Beruf der Hebamme mich seit meiner Kindheit fasziniert hat.

Eine spezielle Form des Wissens

Hebammen sind Trägerinnen einer speziellen Form des Wissens, das sowohl schulmedizinischer als auch traditioneller, heilkundiger Natur ist. Der Hebammenberuf ist einer der ältesten Frauenberufe der Welt und von einer speziellen Aura umgeben. Der berühmte Arzt Paracelsus gestand einmal: "Alles Wissen, das ich über die Medizin und die Wirkung der Heilkräuter habe, weiß ich von den Hexen und von den weisen Frauen." Die Hebamme als weise Frau – das Französische sage-femme sowie das Niederländische vroedvrouw zeigen dies an. Tatsächlich hat jede Sprache ihr eigenes Wort, mit eigener Bedeutungsdimension. Die deutsche Heb-Amme ist die Frau, die das Kind sozusagen in das Leben „hebt“, genauso wie die dänische jordemor, was wörtlich soviel bedeutet wie „Mutter Erde“ und zeigt, dass das Kind aus der Erde in die Existenz gehoben wird. Das Italienische levatrice geht ebenfalls ins diese Richtung. Im Englischen ist sie the mid-wife, also wörtlich diejenige, die bei der Mutter dabei ist, genauso wie im Spanischen die comadrón.

Ihre Wissenschaft, die Geburtshilfe nennt man auch die Obstretik, vom Lateinischen obstretix, was wörtlich übersetzt soviel bedeutet „diejenige, die gegenüber steht“. Wir beginnen unser Leben zwischen zwei Frauen, die sich gegenüber stehen. Ist das nicht ein poetisches Bild?Seit Ende letzten Jahres und u.a. auf Vorschlag Luxemburgs ist die Hebammenkunst Teil des immateriellen UNESCO-Weltkulturerbes. In ihrer Begründung schreibt die UNESCO, dass „Hebammen zum Schutz grundlegender Menschenrechte beitragen, indem sie ihr Wissen an Mütter und Familien weitergeben“. Ein Wissen, das durch „Erfahrung, Beobachtung und direkte Interaktion mit dem menschlichen Körper erworben wurde“ und „insbesondere in Frauennetzwerken bewahrt, bereichert und weitergegeben“ wurde. Ein Wissen also, bestehend aus Gesten, Riten und Rezepten.

Mäeutik

Es gibt auch eine philosophische Dimension der Hebammenkunst. Ein anderes Wort für die Hebammenkunst ist nämlich Mäeutik, auf Französisch maieutique, vom griechischen maia, dem Wort für Hebamme. Der Urvater der westlichen Philosophie, nämlich Sokrates, dessen Mutter eine maia war, hat seine eigene philosophische Methode einmal mit der Mäeutik verglichen. Es wird erzählt, dass das Orakel von Delphi gefragt wurde, wer der weiseste Mensch der Welt sei. Das Orakel antwortete: Sokrates. Als dieser das zu Ohren bekam konnte er es nicht glauben: Ich, der weiseste Mensch der Welt? Und das, obwohl es doch so viele Weise Menschen in meinem Umfeld gibt? Sokrates wollte den Gegenbeweis des Orakelspruchs bringen, und einen weiseren Menschen als ihn selbst finden. Sokrates ging zu einem besonders weisen Mann und begann ein Gespräch mit ihm. Das Ergebnis war ernüchternd: „ [ich] erhielt den Eindruck, der Mann komme zwar vielen anderen Menschen und am allermeisten sich selbst weise vor, sei es aber durchaus nicht.“ Denn sobald es um die wesentlichen Fragen ging, war ihr Wissen nur noch ein Scheinwissen.

Und dann ging Sokrates die Bedeutung des Orakelspruchs auf: „Diesem Mann bin ich, Sokrates, allerdings an Weisheit überlegen; denn wie es scheint, weiß von uns beiden keiner etwas Rechtes und Ordentliches, aber er bildet sich ungeachtet seiner Unwissenheit ein, etwas zu wissen, während ich, meiner Unwissenheit mir bewußt, mir auch nicht einbilde etwas zu wissen.“ Ich weiß, dass ich nichts weiß, das Wissen um das eigene Nicht-Wissen ist immer noch tiefgründiger, als das vermeintliche Wissen. Aber was hat das mit Mäeutik zu tun? Nun, in der Antike waren Hebammen Frauen, die selbst keine Kinder mehr gebären konnten. Ebenso Sokrates: da er weiß, dass er nichts weiß, bringt er kein eigenes Wissen auf die Welt. Aber eben dies befähigt ihn dazu, andere auf dem Weg zur Selbsterkenntnis zu begleiten, also selbst zur Einsicht in die Wahrheit zu kommen. Anders gesagt: Sokrates hilft anderen Menschen dabei, ihr Wissen zu gebären und wahre Ideen in die Welt zu bringen. Die Philosophie ist die Hebamme der Selbsterkenntnis.

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