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Prisma

Wofür steht der "gute Vorsatz"?

Die meisten von uns haben sie, die wenigsten behalten sie, ihre Lebensdauer überschreitet meist nicht die Monatsgrenze und trotzdem tauchen sie alljährlich wieder auf: die Rede ist von den guten Vorsätzen. Aber was tun wir eigentlich, wenn wir diese Vorsätze machen, die wir nicht einhalten? Ist es überhaupt möglich, sich permanent selbst zu verbessern? Und welche Ideologie steckt hinter dem guten Vorsatz? Lukas Held erklärt, warum Sie gute Vorsätze nicht erst in ein paar Monaten, sondern sofort über Bord werfen sollten.

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4 min

"Ich hasse den Neujahrstag"

Der italienische Philosoph und kommunistische Politiker Antonio Gramsci machte einmal die folgende, mir äußerst sympathische Bemerkung: "Ich hasse den Neujahrstag. Ich hasse diese Jahreswechsel, die aus dem Leben und dem menschlichen Geist ein kommerzielles Unternehmen mit seinem braven Jahresabschluss, seiner Bilanz und seinem Budget für die neue Geschäftsführung machen."

Mir sind diese Sätze sympathisch, da sie ein Phänomen benennen, das uns alljährlich begegnet, und mir alljährlich problematisch erscheint. Die Rede ist von den sogenannten "guten Vorsätzen", die wir uns zum Jahreswechsel vornehmen - und mit "wir" meine ich natürlich uns alle, denn wir sind alle zu dick, rauchen und trinken zu viel, treiben zu wenig Sport, benutzen zu oft das Auto und zu wenig das Rad, rufen unsere Eltern nicht oft genug an, haben zu viel Stress, zu wenig Zeit für uns selbst, sind nicht achtsam genug - kurz: wir leben nicht unser bestmögliches Leben. Weder ich, noch sie, werte Zuhörer. Bei dieser zugegeben etwas deprimierenden Einsicht setzt der gute Vorsatz an, denn im neuen Jahr soll wenn nicht alles, so doch zumindest einiges besser werden. Man braucht da nur ein wenig Willenskraft, ein bisschen Durchhaltevermögen und den richtigen Ansporn. Und da wir Menschen nicht erst seit Aristoteles gesellige Tiere sind, spornen wir uns gegenseitig an und fordern uns heraus. Und das mündet dann in kollektiven Verzichtsbewegungen wie z. B. dem "Dry January" (also wörtlich dem "trockenem Januar"), natürlich mit dazugehöriger App und allerlei Hashtags.

Wofür steht der gute Vorsatz?

So weit, so gesund. Was soll aber nun daran problematisch sein, ein achtsameres, ruhigeres, einfach ein besseres Leben führen zu wollen? Um das zu erkennen, müssen wir eine andere Perspektive einnehmen. Denn viel wichtiger und interessanter als der Befund, dass wir etwas tun, ist die Frage, warum wir etwas tun. So beginnt Philosophie, und so gelangen wir zu den eigentlichen Beweggründen, für die unsere Handlungen nur symptomatisch stehen. Also fragen wir nach: Was tun wir eigentlich, wenn wir uns gute Vorsätze machen? Wofür steht der gute Vorsatz, was ist in ihm mitgedacht?

Leben = Kapital

Mir scheint, dass der gute Vorsatz die Vorstellung des Lebens als eines - wie Gramsci sagt - "kommerziellen Unternehmens" propagiert. So soll am Ende des Jahres auf die verpassten Chancen, vergangenen Fehler und Schwachpunkte zurückgeblickt werden, mit dem Willen, sie im nächsten Jahr nicht mehr zu wiederholen, und dies mit dem allgemeinen Ziel, einfach "besser" zu werden. Aber besser für wen und vor allem nach welchem Maßstab? Ist es überhaupt möglich, sein Leben alljährlich zu verbessern, so wie eine Firma alljährlich ihre Bilanz verbessert? Was soll "besser" eigentlich bedeuten? Das offensichtliche Problem an dieser Marktlogik ist, dass mit dem Prozess der Verbesserung niemals ein Ende mitgedacht ist. Anders gesagt: wir können uns zwar ständig verbessern, wissen aber niemals, wann es gut ist. Diese endlose Verbesserung passt ohne Zweifel zum Kapital, denn man kann schließlich niemals genug Geld besitzen, aber wohl kaum zu unserem Leben.

Narrativ der Selbstverwirklichung

Eben das ist so problematisch am guten Vorsatz: er ist der sichtbarste Teil eines ganzen Narrativs der Selbstverwirklichung, dem wir uns heutzutage nur sehr schwer entziehen können. Der Grundgedanke ist dabei, dass ein jeder die Fähigkeit besitzt, aus eigener Kraft die inneren Blockaden zu überwinden, die sie oder ihn daran hindern, ein selbstbestimmtes und authentisches Leben zu führen. Ausgehend von dieser Annahme hat sich eine ganze Selbsthilfe-Industrie entwickelt, deren Ziel es ist, ihre Kunden zu sich selbst zu bringen. Das fängt beim Fitness-Club an, geht über populärpsychologische Magazine und Nachmittags-Talkshows bis hin zum Seminar zur Achtsamkeit am Arbeitsplatz oder gar - in extremen Fällen - zum Klosterbesuch in Tibet. Was es allerdings bedeuten soll, ein verwirklichtes und authentisches Leben zu führen, wird jedoch niemals definiert. Anders gesagt: es gibt kein fixes Kriterium und keine objektive Richtlinie, nach der man feststellen könnten, dass man zu seinem vollständigen Selbst gefunden und sich selbst verwirklicht hat. Das ist sehr gut für die Auflage von Psychologie Heute, aber sehr frustrierend für denjenigen, der sich auf einer solchen endlosen Suche befindet.

Jeder ist seines Glückes Schmied

Neben den mangelnden Kriterien gibt es aber noch ein zweites großes Problem an diesem Willen zur Selbstoptimierung. Denn überall dort, wo etwas zur Norm erhoben wird, wird dessen Gegenteil pathologisiert. So auch im Bereich der Selbstverwirklichung: wer sich nicht verbessern will, ist prinzipiell suspekt; wer zwar den Willen hat, sich zu verbessern, es aber nicht tut, erscheint als schwach und inkonsequent; und wer sich verbessern will, es aber aus strukturellen Gründen - bspw. Armut, mangelnde Ausbildung, soziale Schwäche, etc. - nicht kann, wird auf sich selbst zurückverwiesen. Wer für sein eigenes Glück verantwortlich gemacht wird, muss auch für sein eigenes Unglück verantwortlich zeichnen, obwohl das - wie das meiste in unserem Leben - oft gar nicht von uns abhängt. "Jeder ist seines Glückes Schmied" heißt es im Sprichwort. Woher Amboss und Hammer kommen sollen, wird aber nicht gesagt.

Daher mein Vorschlag: vielleicht können wir die guten Vorsätze in diesem Jahr nicht erst im März, sondern sofort über Bord werfen. Das Leben ist ein Kontinuum, eine durchgängige Linie, und jede Zäsur darin, jeder vermeintliche "Neuanfang" und jeder "neue Lebensabschnitt" ist willkürlich. Anstatt unbedingt etwas aus unserem Leben machen zu wollen, sollten wir es einfach leben. Das ist schließlich schon schwer genug.