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Warum erzählen wir uns Geschichten?

Wir Menschen erzählen und hören gerne Geschichten - nicht nur Fiktionen, sondern auch unsere eigene. Nicht umsonst postet man online sogenannte "Storys". Aber was tun wir eigentlich, wenn wir (unsere) Geschichten erzählen?

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4 min

Was tun wir, wenn wir Geschichten erzählen?

Es fasziniert mich immer wieder zu sehen, wie gerne wir Menschen Geschichten hören und erzählen. Das sticht gerade jetzt ins Auge, denn wir feiern jetzt gerade das Fest der Geschichten.

Natürlich zunächst einmal die eine große Geschichte, um die es zumindest aus christlicher Perspektive geht, nämlich die Geschichte vom Jesuskind, die Geschichte der Geburt des Sohns Gottes. Ich meine aber auch die ganzen anderen Geschichten, die dieses Fest umgeben, die Geschichte vom Kleeschen, oder die vom Weihnachtsmann, oder die vom Christkind: wie man es auch nennen mag.

Aber auch die persönlichen Geschichten, die man sich am Tisch erzählt und die (für mich zumindest) die Magie der Familie ausmachen. Es scheint beinahe so, als ließen wir gegen Jahresende unserem Bedürfnis freien Lauf, Geschichten zu erzählen.

Vielleicht hat es mit der Dunkelheit zu tun, die die menschliche Phantasie anregt, oder mit der Tatsache, dass wir auf einmal längere Zeit auf engem Raum zusammen verbringen müssen - jedenfalls erzählen wir uns Geschichten.

Was tun wir, wenn wir Geschichten erzählen?

Aber was tun wir eigentlich, wenn wir Geschichten erzählen? Nehmen wir das Beispiel eines Kindes. Wenn ich einem Kind eine Geschichte erzähle, dann öffne ich ja sozusagen einen neuen Raum in seinem Geist, einen Raum der Phantasie, in dem dieser junge Geist dann wohnen kann.

Das kann ein schöner, ein fröhlicher aber auch ein gruseliger Raum sein. Jedenfalls freut es auch den Erwachsenen, denn im Gegensatz zum Kind kann der oder die Erwachsene diese Phantasieräume nicht mehr wirklich bewohnen.

Wir Erwachsenen glauben eben nicht alles, was wir denken, wir haben diese Eigenschaft weitgehend verloren - was ebenso wichtig wie traurig ist. Darum freuen wir uns darüber, den Kindern Geschichten zu erzählen, weil wir ihnen die Räume öffnen, die wir selbst nicht mehr betreten können.

Story ≠ Geschichte

Aber wir erzählen nicht nur Geschichten - wir sind auch Geschichten. Wir haben allemal eine Geschichte, die wir kontinuierlich ausbauen. Das ist heutzutage eine wichtige Beschäftigung geworden. Denk mal an die sogenannten "Storys" auf Instagram ("Story" heißt ja Geschichte).

Dahinter steckt die Idee, dass ich mein Leben in kleinen Geschichten erzählen kann: die Geschichte von meinem letzten Surftrip, die Geschichte meines Weihnachtsmarktbesuchs, die Geschichte meines neuen Kleides, meines letzten Essens. Diese Storys kann ich sogar durch Hashtags mit einer großen Story verknüpfen, z.B. dem Hashtag "Luxembourg".

Das Problem bei den Instagram-Storys ist aber, dass sie nach einer gewissen Zeit wieder verschwinden, so dass man dazu verpflichtet ist, immer weiter zu erzählen, immer mehr Geschichten zu kreieren. Wir sind dazu aufgefordert, ständig Geschichten zu erzählen, die nach 24h wieder vergessen werden.

Das hört sich für mich übrigens an, wie etwas, wozu man in der Hölle verdammt wird. Diese gesuchte Amnesie, dieser permanente Strom, Stream von Storys führt natürlich dazu, dass wir niemals wirklich an sie anknüpfen können. Aus vielen kleinen Storys ergibt sich eben keine Geschichte.

In Geschichten verstrickt

Der deutsche Philosoph Wilhelm Schapp, der eine ganze Philosophie der Geschichten entwickelt hat, sagte einmal, dass wir Menschen in Geschichten verstrickt sind, in den Geschichten anderer. Ich habe meine Geschichte, meine Ich-Geschichte, aber ich bin auch Teil der Geschichte meiner Eltern, und der meiner Großeltern, und ich kann auch noch an die Geschichte meiner Vorfahren anknüpfen.

Das ergibt die Wir-Geschichte meiner Familie, die wiederum selbst Teil der Wir-Geschichte einer anderen Familie oder der Menschen im Dorf oder meiner Freunde ist. Denk einmal darüber nach, in wie vielen Geschichten du auftauchst. Vieles in diesen Geschichte ist natürlich auch unklar, denn die Geschichten verlieren sich irgendwann im Unbekannten.

Ich weiß z.B. nicht, was meine Ururgroßmutter für ein Mensch war, ich weiß nur ungefähr, aus welchem Dorf sie stammt. Bei diesen Geschichten ist auch nicht so ganz wichtig, was wahr ist und was falsch. In Sachen Geschichten zählt das nicht wirklich - im Gegenteil, diese Unbestimmtheit ist ein wichtiger Teil der Geschichte.

Ich bin meine Geschichte

Wenn ich über all diese Geschichten nachdenke, dann wird mir bewusst, dass das, was ich bin, dass meine Geschichte, das Resultat der zufälligen Verknüpfungen ganz vieler anderer Geschichten ist. Weil uns dieser Gedanke irgendwie unerträglich ist, konzipieren wir Menschen unsere Ich-Geschichte.

Denn diese eine Geschichte gibt all den Zufällen, all der Kontingenz einen Sinn und eine Richtung. Meine Identität ist - so gesehen - nichts weiter als die Geschichte, die ich mir selbst erzähle. Wir sind unsere eigene Geschichte! Und wenn ich jemanden wirklich kennenlernen will, dann muss ich seine Geschichte hören.

Denn nur die Geschichte gibt mir Zugang zu dem, was Wilhelm Schapp die Seele des Menschen nennt. Die Seele des Menschen drückt sich in seiner Geschichte aus. Du bist deine Geschichte und du bist Teil der Geschichten anderer, denn jeden Tag deines Lebens verstrickst du dich in andere Geschichten.

Und indem wir uns gegenseitig in Geschichten verstricken, schaffen wir etwas, das unsere eigene weltliche Existenz übersteigt. Denn unsere Geschichten überleben uns - und das was wir waren kommt in genau diesen Geschichten zutage, in den Geschichten, die andere über uns erzählen und erzählen werden.

Und erst wenn es niemanden mehr gibt, der diese Geschichte erzählen wird, erst wenn wir in keiner Geschichte mehr auftauchen, dann sind wir wirklich gestorben.

Und vielleicht erzählen wir uns deshalb gerade jetzt so viele Geschichten. Denn während um uns herum die Natur stirbt, feiern wir das Leben und beschwören die Toten - in unseren Geschichten.