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Seismograph

Präfiguriertes Denken

Präfiguration liegt immer dann vor, wenn man die Vergangenheit zum Handlungsmodell der Gegenwart macht. Warum präfiguriertes Denken sehr häufig ist und welche Gefahren darin liegen erklärt Lukas Held.

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4 min

Heute ist ein historisch interessanter Tag. Am 2. Dezember 1804 hat sich Napoléon Bonaparte in Notre Dame selbst zum Kaiser gekrönt. Mit dem Sacre de Napoléon, wie man es französisch nennt, wurde Frankreich zum Empire und Napoléon selbst Kaiser auf Lebenszeit.

Jedes Schulkind weiss natürlich, wie die Sache ausgegangen ist, Waterloo und Sankt-Helena usw. 47 Jahre später, also am 2. Dezember 1851 begeht Napoléons Neffe, Charles-Louis Napoléon Bonaparte einen Staatsstreich, der in die Geschichte eingegangen ist als Coup d'état du 2 décembre 1851.

Durch diesen Staatsstreich sichert sich Charles-Louis die Macht - wenige Monate vor Ende seines Mandats als Premierminister - und beendet damit auch die Deuxième République. Genau ein Jahr später, also am 2. Dezember 1852, lässt sich Napoléon III, wie er sich jetzt nennt, ebenfalls zum Kaiser krönen und leitet damit das Second Empire ein ... was dann wiederum bis 1870 andauern wird, als bis zum Deutsch-Französischen Krieg.

"Erst als Tragödie, dann als Farce"

Es ist nur interessant zu sehen, wie der 2. Dezember von Napoléon III. als Symboldatum aufgeladen wird: zuerst ein Staatsstreich, und dann ein Jahr darauf und exakt 48 Jahre später als sein Onkel: die eigene Kaiserkrönung. Karl Marx, damals noch mehr als Journalist denn als Philosoph bekannt war, hat das sehr spitz kommentiert.

Die Passage aus Marx' Achtzehntem Brumaire des Louis Bonaparte ist ein Klassiker der Philosophie. Marx schreibt dort: "Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce."

Marx zufolge wiederholt sich die Geschichte, aber nicht so, dass alles immer gleichbliebe. Sondern in dem Sinne, dass die Akteure der Geschichte sich immer wieder auf die Vergangenheit beziehen, sich - wie Marx es selbst sagt - dort "Namen, Schlachtparolen und Kostüme" ausleihen. Mithilfe der Autorität des schon Gewesenen versuchen sie dann, die Zukunft zu gestalten. Oder anders gesagt: es wird versucht in den ansonsten linearen Zeitverlauf der Geschichte eine gewisse Zyklik zu bringen, um so der Gegenwart mehr Bedeutsamkeit zu verleihen.

Man gibt also vor, dass die Gegenwart die Wiederholung der Vergangenheit sei. Gleichzeitig nimmt man die Vergangenheit als Vorbild für gegenwärtige Handlungen. Der Philosoph Hans Blumenberg hat das einmal Präfiguration genannt.

Präfiguration

Damit meint er, dass man eine vergangene Handlung zum Paradigma macht, also zum Modell zukünftiger Handlungen in vergleichbaren Kontexten erhebt. Ein Beispiel ist Napoleons Feldzug nach Ägypten, der hochgradig präfiguriert war insofern Napoleon hier in die Fußstapfen der von ihm verehrten römischen Feldherrn treten wollte.

Der Feldzug ist ein Desaster, aber Napoleon umgibt sich dadurch mit der Aura des mächtigen Feldherrn Caesar, aber auch des Kreuzritters, der den Orient erobert. Denn nur im Orient, so war damals die Meinung, kann historischer Ruhm erworben werden. Ebenso Hitlers Russland-Feldzug, eine Präfiguration von Napoleons eigenem Russland-Feldzug - beides militärische Disaster.

Man denke auch an die Unterzeichnung des Waffenstillstands von 1940, den Hitler in exakt demselben Zugwagon unterschreiben ließ, wie den Waffenstillstand von 1918 - nur dass Deutschland nun auf der Gewinnerseite stand.

Gefährliche Analogien

Eben das ist Präfiguration: sie ist selbsterklärend, absolut einsichtig, man braucht keine große Rhetorik um verständlich zu machen, was hier gemeint ist. Präfigurierte Handlungen bedürfen keines Kommentars und sie lassen auch wenig Kommentar zu.

Nun hilft uns Präfiguration in komplexen und unübersichtlichen Situationen und erlaubt es uns, schnell zu denken und zu handeln: man handelt einfach so, wie andere in ähnlichen Situationen schon vorher gehandelt haben. Was dabei allerdings droht, ist der Realitätsverlust: die gegebenen Umstände werden verkannt bzw. so zurechtinterpretiert, bis sie in das präfigurierte Denkschema passen.

Eine aktuelle und ziemlich problematische Form von Präfiguration ist bspw. die Gleichsetzung der momentanen politischen Situation mit dem Aufstieg des Faschismus, oder die unselige Analogie zwischen Ungeimpften und Holocaust-Opfern. Was sich darin ausdrückt ist eine Art verkürzten Denkens, eben ein präfiguriertes Denken: "so war es einmal und jetzt ist es wieder so und wir müssen also so handeln wie damals!"

Man will also die eigene Handlung mit Verweis auf die Vergangenheit legitimieren. Es ist aber auch die Weigerung, die Gegenwart als in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen - so chaotisch, problematisch und eben komplex er auch sein mag. Das ist gefährlich, denn dann läuft man Gefahr - um mit Marx zu sprechen - vor lauter Farcen die Tragödie nicht mehr zu erkennen.