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Prisma

Für eine Ethik des Ignorierens

Es gilt allgemein als unhöflich, nicht zu antworten, wenn man angesprochen wird. Nun leben wir jedoch in einer Welt, in der wir andauernd angesprochen werden, digital, über viele verschiedene Kanäle, Netzwerke und sonstige Kommunikationsmittel. Das versetzt uns in einen permanenten Aufmerksamkeitsmodus, der auf Dauer sehr ermüdend ist. Aus diesem Grund brauchen wir heute eine Ethik des Ignorierens. Vielleicht liegt im Ignorieren heutzutage mehr Autonomie, als im Zuhören. Gedanken dazu von Lukas Held.

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6 min

Kennen Sie das auch? Sie haben es sich gerade gemütlich gemacht, vielleicht mit einem Buch oder Magazin, in das sie langsam versinken, da vibriert im Nebenzimmer plötzlich das Handy. Nur kurz, zweimal, wahrscheinlich also eine Nachricht, bestimmt nichts Wichtiges.

Störungen

Selbst wenn sie nicht direkt zum Handy laufen, ist jetzt doch etwas in die Ruhe getreten, nämlich ein Gedanke: Was, wenn es aber dringend ist? Wer will denn jetzt noch etwas von mir? Werde ich vielleicht gebraucht?

Und während Sie so vor sich hin spekulieren ist sicher: die idyllische Ruhe von vorhin ist weg. So oder so ähnlich geht es mir zumindest, denn ich lasse mich sehr leicht ablenken - insbesondere von meinem Handy, das ich deshalb auch eigentlich immer zur Hand habe. Selbst wenn ich die störende Nachricht dann nicht unbedingt öffne, so ist der Gedanke doch da: da will jemand etwas von dir, und du antwortest ihm nicht.

Ich denke, dass meine Reaktion wohl auch mit Erziehung zu tun hat. Wenn dich jemand anspricht, dann antwortest du gefälligst! So hat man es mir zumindest beigebracht.

Nun leben wir aber in einer Zeit, in der wir andauernd angesprochen werden, digital, über ein Dutzend verschiedene Kanäle, Messenger-Dienste, soziale Netzwerke, mit wiederum drei Dutzend verschiedenen Signaltönen. Dabei werden wir nicht nur von Menschen angesprochen, sondern - was viel häufiger vorkommt - von Apps und sonstigen algorithmisch funktionierenden Gebilden.

Manchmal verbinden sich die beiden sogar, wenn man zum Beispiel vom sozialen Netzwerk darauf angesprochen wird, dass es doch interessant sein könnte, diese oder jene Person wieder einmal anzusprechen.

Ethik des Ignorierens

Wie dem auch sei: die alte Höflichkeitsregel, der zufolge man gefälligst zu antworten habe, wenn man angesprochen wird, scheint heutzutage etwas überholt. Aber durch was ersetzen wir sie? Ist überhaupt geklärt, ob es in Ordnung ist, den Anrufer wegzudrücken, wenn man keine Lust auf ihn oder sie hat?

Wo liegen da eigentlich die Grenzfälle, also wann muss man antworten? Ist es eigentlich ok, jemanden zu ghosten, also plötzlich und ohne Erklärung nichts mehr von sich hören zu lassen? Und gibt es ein Moratorium zum Beantworten einer WhatsApp? Mir scheint, dass hier Klärungsbedarf besteht. Was wir brauchen ist - mit anderen Worten - eine Ethik des Ignorierens.

Diese Ethik beträfe jedoch nicht nur den Bereich privater Kommunikation. Eine Ethik des Ignorierens müsste sich allgemein mit der Frage befassen, wie wir unsere begrenzte Aufmerksamkeit verteilen sollen und wann es ratsam ist, sich abzuwenden. Diese Frage scheint mir auch angesichts des aktuellen politischen Kontexts und der medialen Möglichkeiten von allergrößter Wichtigkeit.

Ist es beispielsweise gerechtfertigt, dass wir die geballte mediale Aufmerksamkeit einer Handvoll Rednecks schenken, die in das Kapitol eindringen? Oder den sogenannten Querdenkern, einem Phänomen, dass trotz seiner realen Marginalität medial unverhältnismäßig aufgeblasen wird. Was wäre, wenn man rechte Populisten, selbsternannte Patrioten, arrogante Verschwörungstheoretiker oder dümmliche Machos einfach ignoriert, anstatt ihnen einen Platz in unserer Aufmerksamkeit einzuräumen? Einen Platz, den sie in der Gesellschaft gar nicht haben?

Anders gefragt: muss man eigentlich mit allen reden, oder kann man sich auch einfach umdrehen, und weggehen? Es mag seltsam wirken, einen vermeintlich egoistischen Akt wie das Ignorieren, also das Entziehen von Aufmerksamkeit verteidigen zu wollen. Wäre es nicht viel besser, aufeinander zuzugehen, sich zuzuhören, Meinungen zu konfrontieren und so die Welt ein wenig besser zu machen?

Ständige Aufmerksamkeit

Eben hier liegt meiner Einschätzung nach das Problem: jemanden zu ignorieren beziehungsweise ignoriert zu werden wird heutzutage immer noch als ein Affront empfunden - und das obwohl sich die Verhältnisse drastisch geändert haben. Verändert hat sich beispielsweise unsere Aufmerksamkeit. Vorher schenkte man jemandem oder etwas seine Aufmerksamkeit.

Man beachte diesen sonderbaren Wortgebrauch, der sich auch in anderen Sprachen wiederfindet: so im Französischen: prêter attention à quelque chose, oder im Englischen: to pay attention. Das zeigt an, dass Aufmerksamkeit ein rares Gut ist, etwas, dass nicht selbstverständlich ist, sondern verdient werden muss.

Heutzutage ist aus dem Geschenk aber ein Tribut geworden, denn heutzutage wird das Aufmerksam-sein vorausgesetzt. Das hat technologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gründe, die eng miteinander verwoben sind. Das ständig verbundene Smartphone mag hier sinnbildlich für all dies stehen.

Erreichbar, verfügbar und aufmerksam: so ist der Mensch im 21. Jahrhundert. Und da er ständig aufmerksam ist, wird seine Aufmerksamkeit auch ständig unterhalten. Nur deshalb können sich Neuigkeiten so schnell verbreiten, Videos viral werden, aus Stürmen im Wasserglas regelrechte Shitstorms werden, nur so können Cretins ins Licht der Öffentlichkeit kommen, nur so kann Dummheit sich verbreiten - weil wir andauernd aufmerksam sind, weil wir andauernd zuhören.

Der Anspruch auf Aufmerksamkeit ist tatsächlich das Resultat unseres ständigen Zuhörens und Zusehens - und nicht umgekehrt. Denn heutzutage hat jeder ein potentielles Publikum, und so kann jeder damit rechnen, dass die Aufmerksamkeit irgendwann ihr oder ihm gilt - und sie deshalb auch beanspruchen.

Bewusstes Ignorieren

Hier müsste eine Ethik des Ignorierens ansetzen. Früher lag Autonomie darin, jemandem seine Aufmerksamkeit zu schenken. Heute liegt m.E. mehr Selbstbestimmtheit darin, jemandem Aufmerksamkeit zu entziehen, also zu ignorieren. Denn wenn wir alle permanent Publikum sind, liegt mehr Selbstbestimmtheit darin, bei einer schlechten Darstellung aufzustehen und den Saal zu verlassen, als geduldig sitzen zu bleiben.

Es ist wie mit dem Straßenkünstler in der Fußgängerzone: da, wo Leute sind, muss es etwas zu sehen geben. Heute stehen metaphorisch gesprochen an allen Ecke Menschentrauben, und dennoch ist die Show miserabel.

Das hat weitreichende Konsequenzen für unsere Debattenkultur, denn die ständige Präsenz eines Publikums nivelliert den Wert der Debatte: auf einmal ist alles der Rede wert, überall wird gesprochen und diskutiert - schließlich hört ja immer jemand zu. Und komischerweise hören wir tatsächlich zu, denn es fehlt uns eine positive Sicht auf den Akt des Ignorierens, auf das Unaufmerksam-Sein und letztlich das Weitergehen. Mit dieser Alternativlosigkeit zum ständigen Zusehen müsste eine Ethik des Ignorierens aufräumen.

Fazit

Wir sollten also mehr ignorieren, wir sollten Unaufmerksamkeit pflegen - insbesondere im Alltag. Vielleicht könnte somit eine größere Distanz zu unseren Mitmenschen entstehen. Das hört sich sehr kalt und sehr postmodern an, ist aber in Wahrheit lebensnotwendig.

Sich auf Distanz zu anderen zu setzen gibt einem die Möglichkeit, eine genauere Einschätzung der Situation zu machen, es erlaubt zudem, Zeit zu gewinnen - mit dem Resultat, dass unsere Interaktionen überlegter werden. Des Weiteren muss man sich selbst darüber Rechenschaft ablegen, warum man sich auf Distanz setzt. Und das ist wiederum der Beginn der Selbstreflexion.

Aus der Distanz heraus können wir uns bewusst werden, dass manches einfach nicht der Rede wert ist - und anderes hingegen schon. Erst aus der Distanz erkennen wir das Relief unseres sozialen Umfelds - mit all seinen Höhen und Niederungen. Indem wir uns gegenseitig in Ruhe lassen, können wir uns gegenseitig eigentlich erst ernst nehmen.

Diese Distanz aus der Ignoranz heraus ist respektvoller, als eine unüberlegte Aufmerksamkeit. Mithin kann all das soeben Gesagte auch ignoriert werden.