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Zäithistoriker

Die Denazifizierung der Ukraine?

In Europa ist ein Angriffskrieg ausgebrochen. Der Angriff auf einen souveränen und demokratischen Staat stellt einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. In einer Rede vom 24. Februar 2022 nimmt Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, die Vergangenheit zum Anlass, den souveränen Staat Ukraine anzugreifen. Neben machtpolitischen Argumenten wie der Bedrohung durch die NATO wird die historische Vergangenheit der Ukraine und Russlands instrumentalisiert, um Putins politisches Handeln zu rechtfertigen. Die Historikerinnen der Universität Luxemburg, Johanna Jaschik und Nina Janz, verurteilen diese Falschaussagen und Putins freie Geschichtsinterpretation aufs Schärfste.

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5 min

In Europa ist ein Angriffskrieg ausgebrochen. Der Angriff auf einen souveränen und demokratischen Staat stellt einen Verstoß gegen das Völkerrecht dar. In einer Rede vom 24. Februar 2022 nimmt Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, die Vergangenheit zum Anlass, den souveränen Staat Ukraine anzugreifen. Neben machtpolitischen Argumenten wie der Bedrohung durch die NATO wird die historische Vergangenheit der Ukraine und Russlands instrumentalisiert, um Putins politisches Handeln zu rechtfertigen. Wir, Forscherinnen und Forscher der Universität Luxemburg, verurteilen diese Falschaussagen und Putins freie Geschichtsinterpretation aufs Schärfste.

Seit Putins Rede im Kreml und mit seiner Ansprache an die ukrainische Nation in der vergangenen Woche, erreichte das Narrativ einer 'faschistischen' Ukraine auch westliche Medien. Ein Ziel der russischen Offensive sei, laut Putin, die 'Denazifizierung' der Ukraine. Dieser Begriff hat seinen Ursprung in der sowjetischen Erinnerungskultur, in der die Sowjetunion als Befreier der Welt vom Nationalsozialismus gilt. Der Kampf gegen Faschismus ist tief verankert in der gesellschaftlichen Erinnerung in Russland an den Zweiten Weltkrieg und geht einher mit den gewaltigen menschlichen Verlusten, die die Sowjetunion während des Krieges erduldete. Zur Zeit des Kalten Krieges avancierte der Begriff 'Denazifizierung' zu einem Passe-partout, um jegliche kommunistischen Regimegegner zu diskreditieren. Heute hat der Begriff immer noch erhebliches Mobilisierungspotential. Man denke an die Feierlichkeiten zum 9. Mai, zum Tag des Sieges der Sojwetunion über Nazi-Deutschland, die unter Putin zu einem Revival kamen. Doch was hat das mit der Ukraine zu tun?

Eine 'faschistische' Ukraine?

Die historische Zuschreibung der Ukraine als 'Nazis' ist kein neues Narrativ, und kam, unter anderem, 2014 im Rahmen der Annexion der Krim zum Einsatz. Bereits hier rechtfertigte Putin in einer 50-minütigen Ansprache im Moskauer Kreml (18.03.2014) die Annexion der Halbinsel damit, sie sei ein "russisches, ukrainisches und krimtatarisches Land' werde jedoch niemals banderovskim sein. Was Putin impliziert, wenn er in Bezug auf die Ukraine von banderovskim und "Denazifizierung' spricht, ist ein historischer Bezug der ukrainischen Gesellschaft zur Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und zu einem ihrer berühmtesten Anführer, Stepan Bandera. Die OUN war ein Zusammenschluss nationalistischer Kräfte im Westen der Ukraine im Europa der Zwischenkriegszeit, der sich 1929 als Folge der progressiven Integration von Ostgalizien (Westukraine) an Polen nach dem Ersten Weltkrieg und der stetig wachsenden Angst vor dem Einfluss sowjetischer Mächte bildete. Das, was alle Splittergruppen der Bewegung einte, war ihr Streben nach einem unabhängigen ukrainischen Staat, und als größten Gegner dieses Zieles sahen sie die Sowjetunion. Die Ukraine war in der Vergangenheit über Jahrhunderte fragmentiert zwischen mehreren Großmächten, wie Polen-Litauen, der Habsburgermonarchie, dem Russischen Kaiserreich und später der Sowjetunion, wobei mehrere Formierungen eines unabhängigen ukrainischen Staates stets niedergeschlagen wurden. Während ihres Kampfes für ukrainische Unabhängigkeit kämpfte die OUN sowohl gegen das nationalsozialistische Deutschland als auch gegen die Sowjetunion, ging im Zuge der Unabhängigkeitsbestrebungen jedoch auch Kollaborationen mit Nazi-Deutschland ein und war für die Ermordung von Tausenden von Polen und Juden verantwortlich. Mit der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 hatte die OUN regional im Westen der Ukraine wieder an Bedeutung gewonnen, insbesondere für paramilitärische Gruppen, aus denen sich später politische Parteien formen sollten. Besonders seit den Maidan-Protesten 2014 und dem Beginn des Krieges im Donbass, nahm die regionale Signifikanz der OUN einen nationalen Charakter an und transformierte in ein Symbol für die ukrainische Unabhängigkeit und Demokratie. Im heutigen gesellschaftlichen und historischen Diskurs bleibt die OUN ein komplexes und kontrovers diskutiertes Thema, was besonders von seiten Polens und der jüdischen Gemeinschaft genau beobachtet wird.

In den russischen Medien herrscht weniger Uneinigkeit über die Bedeutung der OUN. Hier wird die Organisation als Nazi-Kollaborateur, russophob oder faschistisch bezeichnet. Angefacht wird diese Debatte durch Bilder und Videoaufnahmen, zahlreicher als ultrarechts, antisemitisch, xenophob und antirussisch eingestuften Parteien in der ukrainischen Politiklandschaft, die sich als Erben der OUN präsentieren und es sich zur Aufgabe gemacht haben, den "Kampf der Nationalisten" im modernen Kontext weiterzuführen. Dazu gehören, unter anderem, die Allukrainische Vereinigung Svoboda, Rechter Sektor und Nationaler Korpus. Vor allem die Partei Rechter Sektor ist hier genauer zu betrachten. Sie formierte sich während des Euromaidans 2014 aus verschiedenen paramilitärischen Gruppen und fungierte zunächst als ein Freiwilligenbataillon, das maßgeblich an dem bewaffneten Konflikt zwischen den Protestierenden und den polizeilichen Sondereinheiten verantwortlich war. Im Rahmen der politischen Normalisierung nach der Revolution wurde der Rechte Sektor neben 21 weiteren aktiven neuformierten Bataillonen als staatliche Spezialeinheit anerkannt und erhielt somit eine staatlich finanzierte Vergütung. Nichtsdestotrotz agieren diese Einheiten bis heute autonom, rekrutieren hauptsächlich freiwillige Mitglieder, finanzieren sich über Crowdfunds und Spenden und beziehen ihre Waffen sowohl über staatliche als auch private Anbieter. Das Freiwilligenkorps war stark im Kampf gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine involviert und soll laut Studien von Amnesty International für die Gefangennahme und Folterung von Zivilisten verantwortlich sein.

Nationalistische Parteien als Randgruppe

Was Putin in diesem Kontext jedoch unterschlägt, ist die politische Unbedeutendheit dieser Parteien in der Ukraine. Die "erfolgreichste' nationalistische Partei ist Svoboda. Diese erzielte bei den Parlamentswahlen 2006: 0.36% und bei den Neuwahlen 2007: 0.76%. Erst bei den Regionalwahlen im März 2009 konnte sie 34.69% aller Stimmen (50 von 120 Sitzen) in der westukrainischen Region Ternopil für sich gewinnen und auf parlamentarischer Ebene 2012 sogar 10.44 % erreichen und folglich in die Werchowna Rada (Parlament) einziehen. Dies änderte sich jedoch schlagartig bei den Präsidentschaftswahlen 2014, als die Partei an der 5-Prozent-Hürde scheiterte. Die anschließenden politischen Erfolge von Svoboda blieben aus, ebenso wie die Koalition mit anderen ultranationalistischen Parteien (Rechter Sektor, Nationaler Korpus und die Staatsmännische Initiative Jaroschs), die den Einzug in das Parlament im Wahljahr 2019 nicht schaffte.

Es zeigt sich also, dass die derzeitige Politik in der Ukraine wenig mit dem von Putin propagierten Bild einer faschistischen Ukraine zu tun hat. Putin verdreht hier also die Fakten, um einen Grund für die 'Befreiung' der Ukraine zu liefern. Er versucht, historisch zu rechtfertigen, was politisch unmöglich ist: den militärischen Einmarsch in die Ukraine. Er benutzt das 'alte' Narrativ der 'faschistischen' Strömungen, die bereits in der Sowjetunion verbreitet waren, und nimmt sie zum aktuellen Anlass, den ukrainischen Staat zu 'denazifizieren'. Abgesehen von der politischen Irrelevanz nationalistischer Parteien, die sich mit dem Begriff 'Erben der OUN' schmücken, hat die ukrainische Bevölkerung ein klares Zeichen gegen Putins Narrativ von einer 'faschistischen' Ukraine gesetzt, indem sie 2019 Wolodymyr Selenskyj zum Präsidenten wählte, einen jüdischen, russischsprachigen Ukrainer, dessen Großvater im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Sowjetunion kämpfte und der Familienangehörige im Holocaust verlor.