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/ De Philosoph Bruno Latour (1947-2022)

Seismograph

De Philosoph Bruno Latour (1947-2022)

In der Nacht von Samstag auf Sonntag verstarb im Alter von 75 Jahren der große französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour. Sein Werk ist komplex und vielseitig - aber leider nicht so bekannt, wie es es verdient hätte. Zusammen mit Lukas Held werden wir versuchen, einige wichtige Momente seines Denkens nachzuzeichnen.

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5 min

Ethnographie der Wissenschaft

Bruno Latour war ein einflussreicher französischer Anthropologe, Soziologe und auch Philosoph. Die meiste Zeit seines Lebens zählte er nicht zur französischen Philosophie-Prominenz à la Foucault und Deleuze.

Dennoch war er einflussreich, weil er diejenigen Leute, die ihn lasen, stark geprägt hat. Das waren zunächst aber mal nicht die Philosophen, denn Latours erste Werke sind eher dem Bereich der Soziologie zuzurechnen, dem Bereich der Wissensoziologie genau gesagt.

Die Wissenssoziologie beschäftigt sich mit der Frage, wie Menschen Wissen produzieren. Sie geht davon aus, dass es einen gesellschaftlichen Rahmen gibt, in dem Wissen produziert wird, also z.B. eine Institution wie eine Uni, mit Fachzeitschriften, mit Laboren, mit gewissen Codes und Verhaltensweise.

Die Wissenssoziologen versuchen zu verstehen, wie sich dieser Rahmen auf die Produktion des Wissens auswirkt. Hier steht Latour dem amerikanischen Philosophen Thomas S. Kuhn nahe.

Paradigmen

Kuhn hatte mit seiner Theorie der wissenschaftlichen Paradigmen in den 60er Jahren für einige Furore gesorgt. Er war nämlich der Meinung, dass Wissenschaftler in ihren Forschungen niemals ganz neutral und objektiv vorgehen, sondern sich immer in einem so genannten Paradigma bewegen, die das definiert, was als "neutral" und "objektiv" gilt.

Dieses Paradigma bestimmt also, was in der Wissenschaft überhaupt als ein Problem angesehen wird, welche Methoden zulässig sind, welche Hypothesen sinnvoll sind und welche nicht usw. Also die Erklärung z.B., dass Wasser untrinkbar ist, weil eine Hexe den Brunnen vergiftet hat, die wäre im heutigen Paradigma nicht mehr zulässig. Das war aber nicht immer so - und daran erkennt man, dass sich die Standards, nach denen man wahres Wissen produziert, im Laufe der Zeit ändern.

Das bedeutet aber auch, dass es eine Art Matrix gibt, die die Wissenschaft und den wissenschaftlichen Diskurs strukturiert. Und Latour hat sich eben dafür interessiert, wie die Wissenschaft spricht. Wie etablieren Wissenschaftler sogenannte Fakten? Wie sprechen sie darüber?

Konnte Ramses II an Tuberkulose sterben?

Latour interessierte sich dafür, was alles zusammenkommen muss, damit eine Tatsache entsteht. Denn Tatsachen fallen nicht einfach vom Himmel, sie entstehen und dafür gibt es Voraussetzungen.

Es gibt da einen brillanten aber auch umstrittenen Artikel von Latour, in welchem er über Ramses II spricht, den ägyptischen Pharao. Im Jahr 1976 hatte man durch allerlei Tests und Analysen herausgefunden, dass der Pharao Ramses an Tuberkulose gestorben ist. Für Latour ist das ein Unsinn, denn die Tuberkulose wurde erst 1882 von Robert Koch entdeckt und als solche benannt.

Man kann nun der Meinung sein, dass diese Bazille ja schon immer existierte und Ramses also tatsächlich an Tuberkulose gestorben ist. In dem Fall sind wissenschaftlichen Entdeckungen eben nur Entdeckungen. Dann gibt es alles schon, und wir Menschen entdecken einfach nur Dinge, die uns vorher unbekannt waren.

Für Latour ist das aber reduktionistisch. In seiner Perspektive ist Ramses II sozusagen 3000 Jahre nach seinem Tod erst krank geworden. Denn die Krankheit Tuberkulose ist das Resultat komplexer wissenschaftlicher und soziologischer Entwicklungen. Das, was wir Tuberkulose nennen, ist ein Konstrukt, eine Fabrikation. Aber Achtung: das bedeutet überhaupt nicht, dass es diese Krankheit nicht gibt. Es gibt Tuberkulose, es gibt diese Bazille, und es ist tödlich.

Aber es gab vor 3000 Jahren nicht das, was wir Tuberkulose nennen. Diese Krankheit hat eine Geschichte, sie ist das Resultat menschlichen Wirkens. Es bedeutet, dass sie einem Diskurs angehört, der heute ein anderer ist, als vor 200 Jahren oder vor 3000 Jahren. Vor 3000 Jahren kann kein Pharao an Tuberkulose sterben, aber heute kann er das. Wir haben also sozusagen zwei sich überlagernde Momente: der Ramses, der vor 3000 Jahren am Zorn Gottes oder sowas stirbt, und der Ramses, der 1976 an Tuberkulose stirbt.

Netzwerke statt Prinzipien

Dieser extreme Konstruktivismus ist durchaus umstritten. Trotz allem erkennt diese Perspektive an, dass das, was wir als Fakten bezeichnen, das Resultat komplexer gesellschaftlicher Prozesse sind, die Spuren hinterlassen. Wissenschaftler entdecken nicht einfach Dinge, sie fabrizieren sie. Wahrheiten und Tatsachen existieren nicht einfach so und ewig, in einer Art Himmel, sondern sie sind eingebettet in ein Spiel von Relationen.

Latour ist wirklich ein Denker des Netzwerks, also der Idee, dass alles was es gibt netzwerkartig miteinander verwoben ist. Nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge - eben wie eine kleine Bazille namens Tuberkulose oder Robert Kochs Mikroskop. Für Latour sind sie allemal gleichwertige Akteure in einem Netzwerk.

Bruno Latour ist ein Anti-Reduktionist. Das bedeutet: er möchte die Dinge eben nicht auf einige wenige Prinzipien reduzieren, die man herauskristallisiert und mittels derer man dann alles erklärt. Er will die Komplexität, er will die Vielfalt, er will die Realität, denn nur hier kann er das untersuchen, was ihn interessiert, nämlich die Frage, wie die Akteure des Netzwerks sich gegenseitig beeinflussen, wo die Knotenpunkte liegen, welche Verbindungen sich aufbauen.

In allen seinen Werken findet man diesen Gestus, diese Beschreibung dessen, was uns verbindet und wie diese Verbindungen entstehen. Seine letzten beiden Bücher haben den Titel Où atterir? und Où suis-je?. Am Titel wird schon deutlich, worum es geht, nämlich versuchen zu verstehen, wo man gerade ist, wo man gerade gelandet ist, wo man steht.

Und genau das scheint uns modernen Menschen zu fehlen, nämlich das Bewusstsein dafür, dass man irgendwo ist, nämlich hier, auf dieser Erde, auf diesem Planeten, in dieser Umwelt, in dieser Gesellschaft, und nicht auf dem Mars, oder im Weltall à la Elon Musk und Jeff Bezos. Wo sind wir eigentlich? Wie funktioniert dieser Ort? Welchen Einfluss habe ich auf diesen Ort, welche Veränderungen bringe ich selbst in dieses Netzwerk? Was sind die Dinge, die die Menschen halten, und sie mit anderen verbinden? Was sind die Voraussetzungen, damit das, was wir sagen und tun, einen Sinn hat? Das sind die Fragen, die sich der Anthropologen zu seiner eigenen Welt stellt. Latour hatte diesen anthropologischen oder ethnologischen Blick, in dem das Bekannte fremd und deshalb bewusst wird.