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Seismograph

Fürst und Schuster

Wéi géif eis Verständnis vu Gerechtegkeet, Ethik a Moral sech änneren, wa mir géife gezwonge ginn, an enger ganz anerer sozialer Schicht ze liewen? Wéi beaflosst eis sozial Ëmfeld eis Perceptiounen an eist Versteesdemech vun der Welt? Dozou gitt et ee Gedankenexperiment, dat den Lukas Held presentéiert.

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Ich weiß nicht, ob es Ihnen auch so geht wie mir, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, aber ich überrasche mich des öfteren dabei, wie ich auf meinem Handy durch meine Fotoalben scrolle, immer weiter in die Vergangenheit hinein. Dank Cloud-Technologie kann man heute ja ziemlich ausgiebig und ziemlich weit in die Vergangenheit reisen. Man sieht die Fotos der Reisen, die man unternommen hat, man sieht verwackelte Selfies, die man komischerweise immer noch nicht gelöscht hat. Man sieht Freunde, die schon lange keine mehr sind, Familienmitglieder, die jetzt wesentlich grauer und faltiger sind, und den Ex-Partner – someone that i used to know, wie es im Lied so treffend heißt. Solche Reisen in die Vergangenheit werden ja auch von einigen sozialen Netzwerken aktiv gefördert, wenn einem z.B. auf einmal ein Post von vor 7,8 oder 10 Jahren in die Timeline ploppt – was meistens ziemlich peinlich ist. Vielleicht sind nicht die anderen die Hölle, wie Sartre es meinte, sondern man selbst vor 10 Jahren.

Wer war ich vor 10 Jahren?

In solchen Momenten stellt sich mir jedenfalls unweigerlich die Frage: Wer war ich eigentlich vor 10 Jahren? Und was ist von diesem Menschen übrig geblieben? Körperlich gesehen nicht allzu viel, zumindest von einem zellulären Standpunkt aus, denn unsere Zellen regenerieren sich ständig. Ich stecke nicht mehr im Körper, den ich vor 10 Jahren hatte – leider, muss man sagen. Dasselbe gilt für viele meiner Überzeugungen, meiner Wünsche und meiner Ziele – auch sie haben sich im Laufe der Zeit geändert (glücklicherweise!). Aber trotzdem würde ich niemals sagen, dass das nicht ich auf diesen Fotos von vor 10 Jahre bin. Irgendetwas hat sich also durchgehalten – aber was? Mein Charakter? Mein Geist? Vielleicht doch irgendetwas an meinem Aussehen? Es ist eine alte, aber wiederkehrende Frage: Was macht meine Identität aus, trotz aller Veränderungen?

Fürst und Schuster

Der englische Philosoph John Locke schlug im 18. Jahrhundert ein Gedankenexperiment vor um diesem Problem auf den Grund zu gehen. Stellen Sie sich einen reichen Fürsten vor, dessen Seele man in den Körper eines armen Schusters verpflanzt. Der Fürst lebt nun im Körper des Schusters und wird auch von allen anderen Menschen eben als dieser Schuster erkannt. Seine Gedanken, seine Gefühle, seine Erinnerungen bleiben aber die eines Fürsten, sie bewohnen jetzt den abgenutzten Körper des armen Schusters. Und obwohl sein Kopf voller fürstlicher Gedanken ist, wird ihn niemand als Fürsten erkennen.

Mensch und Person

Was ist hier passiert? John Locke sagt uns, dass der Fürst noch immer dieselbe Person, aber nicht mehr derselbe Mensch ist. Denn was mich als Person ausmacht, das sind meine Gedanken, meine Emotionen, mein Charakter und ja auch meine Worte und meine Handlungsmotive usw. Was mich als Person ausmacht, ist also das Bewusstsein, das ich von mir selbst und von meinen Handlungen habe. Was mich hingegen als Menschen ausmacht, das ist mein Körper und der Blick, den die Gesellschaft auf diesen Körper hat. Was mich als Menschen ausmacht, ist der Blick der anderen. Im Gedankenexperiment wäre der arme Schuster also immer noch derselbe Mensch. Locke sagt uns, dass der Schuster für jeden, außer für sich selbst, noch immer derselbe Mensch wäre. Ist das nicht eine verstörende Vorstellung: alle sind sich einig darüber, wer man ist, außer man selbst?

Haben wir es nun also mit zwei Identitäten zu tun: der personalen Identität, die man sich selbst zuschreibt, und der menschlichen Identität, die von außen zugetragen wird? Welche ist denn nun wichtiger? Lassen sich diese beiden Identitäten eigentlich unter einen Hut bringen? Und wenn wir das Experiment weiterdenken, stellt sich auch Frage, wie sich der Fürst im Schuster-Körper eigentlich verhalten würde? Käme er mit dieser Situation klar, oder würde er verkümmern? Hätte es der Schuster im Fürsten-Körper seinersiots vielleicht besser? Beeinflusst der Blick der anderen nicht auch das Bewusstsein, das man von sich hat? Lassen sich Körper und Person so eindeutig trennen? Über all diese Fragen lasse ich Sie jetzt gerne selbst nachdenken.

Ich schlage vor, dass wir das doch sehr aufgeladene Identitäts-Thema auf einer humoristischen Note beenden. Die kommt uns vom Philosophen Stéphane Legrand, aus seinem Dictionnaire du pire, wo er Identität wie folgt definiert: "IDENTITÉ, nf.: Synthèse philosophique un tant soit peu frauduleuse des problèmes […] que le riche a avec son père et le pauvre avec la préfecture de police."

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