Unsere Situation
Dem Planeten Erde geht es schlecht. In etwa zehn Minuten wird eine Pflanzen- oder Tierart dieser Erde ausgestorben sein. Das sind jedes Jahr rund 55.000 Arten, die verschwinden. Sie sterben aus, weil sich das Klima "wandelt" wie wir es euphemistisch sagen, obwohl es sich um nichts anderes eine Katastrophe handelt. Diese Katastrophe ist menschengemacht, weshalb auch das große Artensterben, das wir gerade erleben, menschengemacht ist. Zu den Arten die sterben, gehört letztlich und paradoxerweise auch unsere eigene Art. Das sehen wir jetzt zwar noch nicht, aber wir können es schon erahnen, auf Basis einer Vielzahl an Prognosen und Berechnungen. Diese Rechnungen sagen, dass wir - wenn wir die Erderwärmung nicht umgehend stoppen - Ende des Jahrhunderts in einer ganz anderen, sehr viel unfreundlicheren Welt leben müssen. Und wir werden darin leben müssen, weil wir zu diesem Zeitpunkt den Klimawandel nicht mehr abwenden können.
Die Eiskappe werden schmelzen, der Meeresspiegel wird um etwa einen Meter steigen, der Permafrost wird tauen und dabei Unmengen an Methan freisetzen. Der Golfstrom wird sich verlangsamen beziehungsweise ganz aussetzen, weshalb ehemals fruchtbare Gegenden nun unfruchtbar werden. Die erste Ressource, die knapp werden wird, ist das Wasser. Man sieht das ja bereits heute (auch in unseren Breitengraden), und man wird es auch dieses Jahr wieder sehen, Stichwort Winterdürre. Das Wasser wird dann auch hierzulande das wichtigste Gut werden und Anlass für Kriege geben, so wie es in früheren Zeiten Kriege um Öl, um Gold oder um Gewürze gegeben hat.
Es wird immer mehr sogenannte "Klimaflüchtlinge" geben, das heißt Menschen die fliehen, weil ihre Heimat unbewohnbar geworden ist, aufgrund von Trockenheit, Überschwemmungen oder Stürmen. Man geht davon aus, dass in den nächsten Jahrzehnten rund eine Milliarden Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Auf diese Klimaflüchtlinge werden die wohlhabenden Länder des globalen Nordens mit Abschottung reagieren und es ist nicht auszuschließen, dass populistische Parteien aus dieser Notsituation Profit schlagen werden. In Italien und Ungarn sind die Faschisten jetzt schon wieder an der Macht - andere Länder werden sicherlich folgen. Das sind die Prognosen.
Solutionismus
Dennoch gibt es einige, die sich trotz dieser düsteren Aussichten den Optimismus nicht nehmen lassen. Gemeint sind all diejenigen, die daran glauben, dass die Menschheit technologische Lösungen für ihre Probleme finden werden. Gemeint sind all diejenigen, die glauben, dass der durch kapitalistische Konkurrenz befeuerte Innovationsgeist die Dinge schon richten wird: Wir werden einen neuen Sprit erfinden, um trotzdem noch fliegen zu können. Wir werden smarte Gewächshäuser bauen, um effizienter zu landwirtschaften. Wir werden die Kernfusion möglich machen, um unendliche Energie zu generieren. Das glauben, beziehungsweise hoffen all jene, die einen unerschütterlichen Glauben an der technologischen Fortschritt haben. Diese Positionen nennt man übrigens "Solutionismus".
Der Solutionismus ist im Grunde genommen die Ideologie des Silicon Valley - und natürlich auch die Ideologie der Politiker:innen, die von den Tech-Firmen bezahlt werden. Der Solutionismus glaubt, dass sich alle Menschheitsprobleme durch Technologie lösen lassen - und insbesondere durch algorithmische Berechnung und K.I. (Deshalb ist es auch so interessant, dass die Entwicklungen in Sachen K.I. gerade jetzt so gehyped werden. Es ist beinahe so, als hofften wir Menschen darauf, dass die Maschinen uns vor uns selbst retten.) Irgendwie scheinen die Solutionist:innen auch nicht unrecht zu haben, denn wenn man sich anguckt, wo wir heute stehen im Vergleich zu hundert Jahren, dann ist der technische Fortschritt unbestreitbar. Es stellt sich dann die Frage, warum wir an diesem Fortschritt zweifeln sollten.
Der Engel der Geschichte
Der Fortschritt gibt sich durch seine Erfolge immer selbst recht. Aber dadurch wird ausgeblendet, was auf dem Weg alles zerstört wurde. Kein anderer hat das besser formuliert als der deutsche Philosoph Walter Benjamin in seinem Werk "Über den Begriff der Geschichte" von 1940. Er kommentiert hier ein Bild von Paul Klee mit dem Titel "Angelus Novus" und er zieht folgenden Vergleich:
"Der Engel der Geschichte muß so aussehen [wie dieses Bild]. Er hat das Anlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."
Was will uns Benjamin in dieser berühmten und schönen Passage sagen? Er will uns sagen, dass der Fortschritt die Vergangenheit unverfügbar und die Zukunft zugleich ungewiss macht. Anstatt ein reflexives Verhältnis zur eigenen Vergangenheit zu entwickeln, anstatt aus gemachten Fehlern zu lernen, muss es immer weiter gehen, immer weiter, in Richtung des Ungewissen. Letztlich warnt uns Walter Benjamin vor einem blinden und naiven Fortschrittsglauben. Denn noch einmal: wir sehen nicht, wohin uns der Fortschritt treibt. Wir können nur die Trümmer sehen, die sich vor unseren Augen auftürmen. Und es ist kein Wunder, dass angesichts dessen so manch einer lieber die Augen verschließt