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/ Spanische Grippe 2020?

Prisma

Spanische Grippe 2020?

"Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten." Dieser so oft gehörte Satz scheint anzudeuten, dass die Geschichte Antworten bereit hält für die Probleme unserer Zeit. Aber was bedeutet es eigentlich, Lehren aus der Geschichte zu ziehen? Was sind das für Lehren, die sie uns bietet? Im Prisma dieser Woche beschäftigt sich Lukas Held mit der Frage, ob unser Blick in die Vergangenheit uns nicht den Sinn für die Zukunft nimmt - und wie man das ändern kann.

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5 min

Haben Sie schon einmal von der spanischen Grippe gehört, die von 1918 bis 1920 in Europa wütete? Nein? Dann rate ich Ihnen, mal einen Blick ins Feuilleton zu werfen oder eine der hiesigen Buchhandlungen zu besuchen. Nach kurzer Sondierung der Auslage werden Sie schnell feststellen, dass das Thema "Spanische Grippe" gerade Hochkonjunktur hat.

Der Grund ist denkbar einfach: hier wird versucht, aus der Betrachtung der einen globalen und letalen Pandemie die Lehren für die andere globale und letale Pandemie zu ziehen. Man versucht eben etwas aus der Geschichte zu lernen, wie es so schön heißt.

So liest man z.B. im Hamburger Abendblatt davon, wie Wetter und Kälte im Herbst 1918 die Verbreitung der Spanischen Influenza beeinflussten - und was wir davon lernen können. Der Business Insider widmet sich den Parallelen zwischen der Wirtschaftskrise der 1920er Jahre und der womöglich kurz bevorstehenden Wirtschaftskrise der 2020er. "Die Faszination des unsichtbaren Bösen" - so übertitelt DER SPIEGEL die Rezension einer vor drei Jahren erschienenen Geschichte der Spanischen Grippe, und will darin einen "Kommentar zur heutigen Krise" erkennen.

Die Kritiker der heutigen Hygienemaßnahmen amüsieren sich, besonders dramatische Zeitungsartikel von damals hervorzukramen, um so qua Gegenüberstellung zu suggerieren, dass sich hier die Geschichte wiederholt. Aber tut sie das wirklich? Was wollen diejenigen, die solche Vergleiche anstellen, eigentlich wissen? Oder anders gefragt: wozu dient der Blick in die Vergangenheit, und inwiefern trägt er zum Verständnis der Gegenwart bei?

Wir kennen schließlich alle ja den Lieblingssatz eines jeden Geschichtslehrer: "Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten." Was behauptet dieser Satz eigentlich? Er sagt, dass die Kenntnis der Geschichte eine notwendige Bedingung für das Verständnis der Gegenwart und der Zukunft ist. Das wichtigste verschweigt der Satz allerdings, nämlich was es überhaupt heißt, die Geschichte zu kennen - und darüber will ich jetzt kurz sprechen.

Geschichte als Wiederholung

Die zuvor genannten Beispiele illustrieren eine mögliche Interpretation des Satzes, der zufolge die Kenntnis der Geschichte uns einen Einblick in deren Wiederholung gewährt. Der Kenner der Geschichte vergleicht also geschichtliche Situationen, erkennt Parallelen und zieht Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft. Denn er glaubt verstanden zu haben, dass die Geschichte sich wiederholt. Diese Implikation liegt dem weitverbreiteten Reflex zugrunde, in der Geschichte nach Mustern zu suchen, die sich auf die Gegenwart anwenden lassen.

Wenn sich die Geschichte wiederholt, dann bietet die Vergangenheit ein Reservoir von Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Diese Lektüre hat min. einen Vorteil und min. einen Nachteil. Der Vorteil ist, dass sie das Gegenwärtige nicht nur verständlich, sondern auch ein bisschen erträglicher macht.

Die Gegenwart wird so als das bald Überwundene dargestellt. Dazu ein Beispiel: Wenn man im heutigen Kontext auf die Spanische Grippe verweist, dann denkt man die Überwindung der Spanischen Grippe immer schon mit. Die Parallelsetzung Covid 2019-Influenza 1919 dient nämlich dazu, aus der Gegenwart die zukünftige Vergangenheit zu machen. Grammatisch ausgedrückt wird aus einem Präteritum ein Futur II; aus "Die Pandemie wurde überwunden" wird "Die Pandemie wird überwunden worden sein".

Es tut der Seele gut zu wissen, dass das, was man gerade durchmacht, irgendwann einmal vorbei sein wird. Der große Nachteil bei der Sache ist, dass das Gespür für das Neuartige verloren geht, ja dass man die Einzigartigkeit der gegenwärtigen Situation völlig verkennt. Das Neue ist dann nämlich niemals neu, es ist vielmehr das immer Gleichen, das Musterhafte, the same procedure as every century...sozusagen. Das diskreditiert die Gegenwart, anstatt sie zu erklären.

The past is a foreign country...

Ich behaupte hier nicht, dass es keinen Sinn macht, die Geschichte zu studieren - ganz im Gegenteil. Aber was die Kenntnis der Vergangenheit der Gegenwart bringt, hängt wesentlich davon ab, welche Rolle wir der Vergangenheit zuschreiben, oder besser gesagt: was wir von ihr wissen wollen. Denn die Vergangenheit bietet uns immer genau das, was wir von ihr brauchen.

Dem Nostalgiker bietet sie eine ideale Zeit, in der alles besser war, als es jemals wieder sein wird. Für den Kulturpessimisten ist sie die Illustration des Verfallsprozess der Menschheit, für den Kulturoptimisten das genaue Gegenteil. Und dem Nationalisten schenkt sie die Illusion von Identität, von Homogenität und von Herkunft. Man sieht: die Geschichte dient hier der Legitimierung der Gegenwart, indem eine Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft suggeriert wird.

So kann man den Geschichtslehrersatz nämlich auch lesen, und so wird er auch oft in konservativen Kreisen zitiert. Der Philosoph Odo Marquard brachte das auf die griffige Formel "Zukunft braucht Herkunft".

Mich befriedigt diese Lektüre allerdings ebenso wenig wie die vorher besprochene. Hier wird zwar nicht die Gegenwart, dafür aber die Vergangenheit diskreditiert, die viel weniger geradlinig auf uns hinläuft, die immer viel komplexer ist, als wir meinen.

Geschichte unserer Möglichkeiten

Aber wie könnte ein Geschichtsbezug aussehen, der sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart ernst nimmt? Mir scheint, dass ein gesteigertes Kontingenzbewusstsein dazu beitragen könnte, einen produktiven Bezug zur eigenen Vergangenheit zu erlangen. Was bedeutet das? Nun, es bedeutet, in der Geschichte weniger eine Serie von Antworten, und stattdessen ein Reservoir von Möglichkeiten zu sehen, eine Sammlung von Abzweigungen, von Entscheidungen, von Fehlern und von Glücksfällen.

Die Einsicht, dass die Geschichte immer auch hätte anders verlaufen können, macht uns sensibel für die Handlungsmotivationen unserer Vorfahren. Der Philosoph Hans Blumenberg hat das einmal auf die schöne Frage gebracht: Was war es, was wir wissen wollten? Anders gefragt: welche Zukunft wollten die Menschen einmal in der Vergangenheit, was haben sie umgesetzt um diese Zukunft zu verwirklichen, und was hat sie letztlich daran gehindert?

Das Interesse für diese vergangene Zukunft befreit uns vom faulen Lösungs- und Legitimierungsgedanken, der die Gegenwart in die Vergangenheit abdrängt. Denn schließlich sollte es darum gehen, die Gegenwart auf die Zukunft auszurichten, um so neue Geschichten zu schreiben.

"Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten." Der Satz bedeutet eben nicht, dass die Lösungen der Vergangenheit auch unsere Lösungen sind. Der Historiker hat keine Lehren für die Gegenwart und auch keine für die Zukunft. Was er hat ist der Blick für die Möglichkeiten.

Mit anderen Worten: wer die Vergangenheit kennt weiß, dass die Geschichte auch anders hätte ausgehen können - und weiß deshalb, wozu wir einmal fähig gewesen sind. Deshalb ist er sich bewusst, welche Verantwortung wir für die Zukunft tragen.

Aus diesem Grund bedarf es einer Geschichtsschreibung, die sowohl zum Verständnis des Vergangenen beiträgt als auch Lust macht auf das Kommende. Das ist aber nicht mein Metier, weshalb ich auch hier aufhöre...