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/ L'histoire du temps présent

Zäithistoriker

L'histoire du temps présent

E kritescht Bewosstsinn fir Geschicht schafen dierf op kee Fall vun der enger allgemenger Vermëttlung vu Geschicht getrennt ginn. Den Zougank zu der Geschicht huet sech zwar an de leschte Joerzéngte stänneg demokratiséiert, mee de Contenu bleift awer gären ëmmer nach national a staatlech gepräägt. D'Ausernanersetzungen ëm den Artuso-Rapport sinn e gutt Beispill dofir.

De Christoph Brüll vun der Uni Lëtzebuerg mengt, datt an dësem Rapport vill pertinent Froen opgeworf goufen, fir ënner anerem och nozeweisen, datt d'Situatioun vu Lëtzebuerg deemools zwar ganz spezifesch, mee op kee Fall eng eenzegaarteg war.

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4 min

In kaum einer Erklärung geschichtspolitischer Akteure im französischen Sprachraum zu den diversen Gedenk- und Jahrestagen, an denen an den Zweiten Weltkrieg erinnert wird, wie auch dieses Jahr wieder zum 8. Mai (Kriegsende in Europa) und zum 10. Mai (deutsche Invasion Luxemburgs), fehlt der Hinweis auf das devoir de mémoire.

Über den nationalen Tellerrand hinausschauen

Bei HistorikerInnen sorgt der Begriff jedoch nur noch für ein müdes Kopfschütteln. Der Aufruf zur Erinnerung wischt den Unterschied zwischen Geschichte und Erinnerung weg und bildet, darauf hat der Historiker Pieter Lagrou hingewiesen, allzu oft den durchsichtigen Versuch, durch den Verweis auf eine katastrophale Kriegsvergangenheit Kritik an den heutigen Zuständen zu entschärfen.

Mit etwas Abstand fordert der Blick auf die Ausstellungen und Erinnerungsfeierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Kriegsendes zu einigen Überlegungen heraus. Zum einen fiel bei mancher Ausstellung auf, wie schwierig es offenkundig ist, die Forschungsergebnisse der HistorikerInnen in die festgefahrenen Narrative zum Zweiten Weltkrieg zu integrieren. Zum anderen stellt sich in Luxemburg jenseits aller Sonntagsreden die Frage, welche soziale Funktion der Geschichte zukommt. Wem erscheint der Blick in den Rückspiegel noch sinnvoll, um der Gegenwart zumindest einen Teil ihrer Kurzatmigkeit zu nehmen? Wie viel Geschichte braucht die Zukunft?

Geschichte und nationales Selbstverständnis

Die Schaffung eines kritischen Geschichtsbewusstseins ist unabdingbar mit der Vermittlung von Geschichte verbunden. Der Zugang zu Geschichte hat sich in den letzten Jahrzehnten stetig demokratisiert. Die Inhalte sind demgegenüber immer noch vor allem national und staatlich geprägt. Geschichte rührt für viele zuerst an das nationale Selbstverständnis. So verhält es sich auch mit dem Blick auf den Zweiten Weltkrieg in Luxemburg. Die Auseinandersetzung um den Artuso-Bericht ist dafür nur ein Beispiel. Dabei zeigen viele der aufgeworfenen Fragen, dass die Lage Luxemburgs zwar spezifische Züge trägt, dass sie aber eben nicht einzigartig war.

Zwei Beispiele: Wie sollte sich die Monarchin im Falle einer Invasion verhalten? Wie die Regierung? Wie die Verwaltungseliten? Diese Fragen und ihre Antworten stellten sich für alle westeuropäischen Länder. Das war schon den Zeitgenossen bewusst: Die luxemburgischen Behörden suchten während der Drôle de Guerre häufig den Austausch mit ihren belgischen Pendants. Wenn man dies in Perspektive setzt, sieht man beispielsweise, dass die im Mai 1940 entstandene Zerrissenheit zwischen Befürwortern und Gegnern eines Exils von Großherzogin und Regierung kein luxemburgischer Sonderfall war, genauso wenig wie Kollaborationsangebote an den deutschen Besatzer im Angesicht der französischen Niederlage und der daraus folgenden Resignation.

Eine Ende 2019 vielbesuchte Ausstellung zum Zweiten Weltkrieg ging darüber hinweg - zu komplex oder zu verschämt? Die gleiche Schau erzählte die Geschichte einer von NS-Deutschland nach Luxemburg importierten Germanisierungspolitik, bei der es keine Luxemburger Akteure gegeben habe. Das war ein Kunststück, sprachen die ausgestellten Dokumente doch eine andere Sprache und trugen Maßnahmen zu Assimilierung und Selbstassimilierung häufig die Unterschriften von Luxemburgern - alles nur Zwang? Besagte Ausstellung verzichtete übrigens auf ein Kapitel zur Kollaboration. Diese wurde erst im Zusammenhang mit der Nachkriegssäuberung thematisiert, als ob die Kollaboration und ihre strafrechtliche Verfolgung nach 1945 in eins fallen würden.

Die Perspektive wechseln

So bleibt der Abschied von der Opfererzählung, den die Geschichtsforschung seit Längerem nahelegt, oft nur an der Oberfläche und führt zu Auslassungen, die den Herausforderungen, vor denen die Zeitgenossen in der Zeit des Zweiten Weltkriegs standen und die sie unterschiedlich beantworten konnten, nicht gerecht werden. Als Beispiel seien hier nur die individuellen Wandlungs- und Entscheidungsprozesse jener Luxemburgerinnen und Luxemburger erwähnt, die sich 1940 mit den neuen Verhältnissen arrangierten, mit zunehmender Dauer jedoch die mehr oder weniger offene Opposition zum Besatzungsregime wählten.

Es ist nicht Aufgabe der Geschichtswissenschaft, hier retrospektives Besserwissertum an den Tag zu legen; sie muss vielmehr die damaligen Ereignisse und Entwicklungen deutend verstehen. Es fällt dabei auf, wie sehr der Blick auf die Geschichte immer noch ein Blick auf den Luxemburger Staat ist, wo eigentlich der Blick auf die Gesellschaft Not täte - auch im Vergleich (und nicht in der Gleichsetzung) mit den Nachbarregionen. Angesichts der Tatsache, dass der lange angekündigte Abschied von der Zeitgenossenschaft mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg nun Realität wird, kann dieser Aufgabe mit größerer emotionaler Distanz, aber dafür nicht mit weniger intellektueller Wachsamkeit begegnet werden. Man kann es nicht oft genug sagen: Bei jeder Beschäftigung mit Geschichte geht es nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Deshalb stellt auch jede Generation andere Fragen an die Vergangenheit. Wissen und wissen wollen sind die besten Voraussetzungen für den Blick in den Rückspiegel.