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/ Jours de lenteur

Seismograph

Jours de lenteur

Wer in den letzten Wochen einmal in der Stadt am Casino vorbeigegangen ist, wird sich vielleicht etwas gewundert haben. Die Fassade dieses schönen alten Gebäudes ist bedeckt mit dicken Seilen sowie vom Wind durcheinandergeworfenen, schmutzigen und - wegen des Wetters - nassen Laken. Diese riesigen Tücher sind Teil der Ausstellung "Jours de lenteur" des französischen Künstlers Adrien Vescovi, die noch bis zum 29. Januar zu sehen ist.

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4 min

Adrien Vescovi – Jours de lenteur, vue de l'exposition, Casino Luxembourg – Forum d'art contemporain, 2022. Foto : Marc Domage

Prozesskunst

Es ist schon ein beeindruckendes Bild, das diese vom Wind zusammengeknüllten, vom Regen genässten und vom Straßenschmutz verfärbten Tücher dem Zuschauer bieten. Anstelle der titelgebenden lenteur verspürte ich ehrlich gesagt vielmehr eine Art lourdeur angesichts dieser vom Regenwasser beschwerten Stoffe.

Das schier Enorme dieser Gebilde, die bei diesem Wetter wütend im Wind flattern, zieht den Betrachter in einen besonderen Bann. Das ist Absicht: Adrien Vescovi setzt seine Kunst den Launen der Natur aus, um sowohl die schöpferische als auch (was immer zusammengeht) die zerstörerische Kraft der Natur zu thematisieren. Diese Kraft der Natur liegt in ihrem ständigen Werden begründet.

Die Natur ist der unaufhaltsame Prozess des Werden d.h. der Vergänglichkeit, aber eben auch der Schöpfung. Vescovis Kunst veranschaulicht diesen Prozess, indem sie den Prozess des Werdens selbst zum Thema macht. Die Werke, die an und im Casino ausgestellt werden, und die mehrheitlich aus gefärbten Leinentüchern bestehen, wurden vom Künstler in langwieriger Schwerstarbeit mithilfe natürlicher Farben gefärbt und an der Luft getrocknet, zusammengenäht, arrangiert. Alles an ihnen trägt das Zeichen ihres eigenen Entstehungsprozesses. Prozesskunst könnte man das nennen.

Zugleich strahlen diese Tuchcollagen eine eigenartige Ruhe aus. Da kommt es nicht von ungefähr, dass im Raum verteilt vom Künstler selbst konzipierte Bänke stehen, die dazu einladen zu verweilen, zu ruhen und in diese Landschaft einzutauchen.

Eine Referenz auf Éluard

Der Titel der Ausstellung hat mich jedenfalls aufhorchen lassen. Jours de lenteur - eigentlich ist der Tag ja der Moment, an dem man aktiv ist, die Zeit des Schaffens und Machens. Jours de lenteur - das Ganze dann auch noch in der Mehrzahl, also Tage der Langsamkeit. Wann gestatten wir uns eigentlich Tage der Langsamkeit?

Und ist diese Langsamkeit etwas per se gutes? Es gibt ein wunderbares Gedicht von Paul Éluard, mit dem Titel Leurs yeux toujours purs, das genau so beginnt, wie die Ausstellung heißt. Hier die erste Strophe :

Jours de lenteur, jours de pluie,
Jours de miroirs brisés et d'aiguilles perdues,
Jours de paupières closes à l'horizon des mers,
D'heures toutes semblables, jours de captivité

Ist das nicht eine akkurate Beschreibung der Zeit der Pandemie? Langsamkeit, Zeit, die verstreicht ohne genutzt zu werden, die "miroirs brisés", die zerbrochene Spiegel, d.h. die zerbrochene Klarheit und die zerbrochene Erkenntnis, weil niemand wusste, wie es in Zukunft weitergehen sollte; die "aiguille perdue", d.h. die verlorene Kompassnadel, der verlorene Norden, also die verlorene Orientierung; schließlich die "jours de captivité", also das Gefühl, eingesperrt zu sein, z.B. aufgrund der Ausgangssperre.

Also man sieht: der Begriff der "lenteur", der Langsamkeit, der ist mehrdeutig und nicht ganz unproblematisch.

Langsamkeit - kein Wert an sich

Wenn Langsamkeit gesucht wird, dann ist sie wunderbar, aber wenn sie uns auferlegt wird, macht sie uns traurig oder sogar wahnsinnig. Denn Langsamkeit kann uns ebenso kaputt machen, wie Schnelligkeit. Langsamkeit ist kein Wert an sich, ebenso wie Schnelligkeit und Beschleunigung nichts an sich schlechtes ist.

Die Frage ist immer: bin ich in dieser Temporalität gefangen, so wie Eluard die jours de lenteur auch jours de captivité nennt? Oder potenziert mich diese Temporalität, gibt die Schnelligkeit oder die Langsamkeit mir Möglichkeiten und Fähigkeiten? Kann ich mich - anders gesagt - in dieser Zeit einrichten, oder fühle ich mich dort unwohl?

Man muss sich die Zeit als einen Ort vorstellen - und eben das tut Adrien Vescovi mit seiner Kunst. Und so wirken seine Werke auch wie riesige Zeitlandschaften.

Zeit-Räume

Bei mir hat das Werk, das im großen Saal im Casino ausgestellt ist und den Titel Soleil blanc trägt, auch eine etwas besondere Assoziation ausgelöst. Ich musste unweigerlich an ein riesiges Bett denken. Und wann erscheinen einem Betten riesig? Als Kind natürlich.

Der französische Philosoph Michel Foucault hat eine schöne Passage über diesen für das Kind magischen Ort geschrieben, den das elterliche Bett darstellt:

"C'est sur ce grand lit qu'on découvre l'océan, puisqu'on peut y nager entre les couvertures ; [...] c'est aussi le ciel, puisqu'on peut bondir sur les ressorts ; c'est la forêt, puisqu'on s'y cache ; c'est la nuit, puisqu'on y devient fantôme entre les draps ; c'est le plaisir, enfin, puisque, à la rentrée des parents, on va être puni."

Das elterliche Bett als ein Ort der Phantasie, ein Ort, der kein wirklicher Ort ist und der deshalb zu allem werden kann. Ein Ort, an dem die Innenwelt nach außen gebracht wird, ein Ort in dem man sich gerne verliert, gerne verweilt. Vielleicht ist das der Sinn der Langsamkeit, die Adrien Vescovi in seinen Werken zelebriert. So gesehen wäre die Langsamkeit der Ort, an dem man zu sich selbst in Bezug tritt, intim wird, und dabei seiner gestalterischen Kraft freien Lauf lassen kann.


Adrien Vescovis Ausstellung "Jours de lenteur" ist noch bis zum 29.1. im Casino zu sehen.