Lüge und Wahrheit
Lüge und Wahrheit – eigentlich scheint die Sache klar. Man spricht die Wahrheit, wenn man sagt, was ist, und man lügt, wenn man nicht sagt, was ist. Stellen wir diese klare Trennung zwischen Wahrheit und Lüge mit einem Beispiel auf die Probe.
Stell dir vor, deine Frau muss ein Flugzeug nehmen. Sie packt gerade im Schlafzimmer ihre Koffer, sie ist dabei etwas gehetzt, während du in der Küche beim Frühstück sitzt. Deine Frau ruft von oben runter, wie spät es denn gerade sei. Du blickst auf deine Armbanduhr und sagst ihr, dass es 9h ist.
Ihr verabschiedet euch, sie macht sich auf den Weg zum Flughafen. Eine Stunde später ruft deine Frau dich an: sie hat ihr Flugzeug verpasst. Was ist geschehen? Deine Uhr ist stehengeblieben, statt 9h war es eigentlich schon 10h. Du hast ihr eine falsche Information gegeben. Aber hast du sie auch angelogen?
Augustinus und die Lüge
An diesem Beispiel sieht man gut, dass „nicht die Wahrheit sagen“ nicht automatisch dasselbe ist wie Lügen. Damit wäre wohl auch der heilige Augustinus einverstanden, dem wir die klassische Definition der Lüge verdanken.
Wenn jemand etwas behauptet, von dem er oder sie überzeugt ist, es aber nicht der Wahrheit entspricht, dann handelt es sich Augustinus zufolge nicht um eine Lüge, sondern schlicht um eine Dummheit. Man vertraut sich selbst, man vertraut seinem Wissen, und deshalb fällt man in die Unwahrheit.
Eine Lüge hingegen liegt vor, wenn das, was man denkt, sich von dem unterscheidet, was man sagt, wenn also eine Täuschungsabsicht besteht. Augustinus nennt das duplex cogitatio, also doppeltes Denken.
Ironie
Das Französische zeigt das deutlich an, denn mentir oder mensonge hat seine Wurzel im lateinischen mens, also dem Wort für Geist. Zum Lügen bedarf es nicht nur der Sprache, sondern auch des Geistes. Und man sieht: um zu lügen, muss man die Wahrheit kennen. In einer Lüge ist die Wahrheit immer schon mitgedacht.
Aber ganz so einfach ist es dann aber auch wieder nicht. Ich gebe ein anderes Beispiel: Stell dir einen Mann vor, der seine Frau betrügt. Er sieht seine Geliebte regelmäßig in der Mittagspause. Als seine Frau ihren Mann eines Tages weder auf der Arbeit, noch auf dem Handy erreichen kann, stellt sie ihn abends zur Rede: Wo er denn die ganze Mittagspause über gewesen sei? Der Mann antwortet ihr ganz trocken: „Ich war mit meiner Geliebten in unser Lieblingsrestaurant und danach in ein Hotelzimmer, um dort mit ihr zu schlafen. Und das geht jetzt schon seit Jahren so.“ Daraufhin bricht seine Frau in Lachen aus, und antwortet: „Das war ein guter Witz“.
Hat der Mann sie nun angelogen, oder nicht? Nehmen wir an, der Mann wusste, dass seine Frau ihm nicht glauben würde. In diesem Fall läge ein Täuschungsabsicht vor, obwohl der Mann wörtlich die Wahrheit gesagt hat. Wenn er allerdings die Wahrheit gestehen wollte, aber die Frau seine Beichte mit Ironie verwechselte, dann liegt der Fehler nicht bei ihm, sondern bei ihr. Man sieht hieran gut, wie subtil und komplex die menschliche Sprache und Kommunikation ist.
Der einsame Lügner
Wenn wir lügen, dann vertrauen wir nicht. Wir lügen, weil wir kein Vertrauen in die Person haben, die wir anlügen. Oder anders gesagt: in der Lüge entziehen wir dem Gegenüber unser Vertrauen. Was ist Vertrauen? Vertrauen hat mit Offenheit zu tun, aber gleichzeitig auch mit Verwundbarkeit.
Denn es gibt niemals eine absolute Garantie dafür, dass mein Vertrauen nicht missbraucht wird. Ich kann dir aber nur vertrauen, wenn ich mir nicht andauernd die Frage stellen muss, ob das, was du mir gibst und sagst, die Wahrheit ist. Im Vertrauen gibt es also immer eine Form von Unsicherheit und Fragilität. Nur auf diesem Hintergrund ist Vertrauen möglich, und daraus können die schönsten Dinge erwachsen.
Bei der Lüge ist das ganz anders. Hinter der Lüge steckt ja, wie ich schon sagte, immer eine Wahrheit. Wenn ich dich anlüge, dann weiß ich ja ganz genau, was die Wahrheit ist. Und ich weiß auch, dass ich sie dir nicht sage. Man ist selten so selbstsicher, wie in dem Moment, in welchem man jemandem ins Gesicht lügt.
Wenn ich lüge, dann meine ich eigentlich Folgendes: „Ich bin nicht bereit, mich mit dir zusammen in ein offenes, aber unsicheres Verhältnis zu begeben. Ich will mich nicht austauschen. Ich weiß ganz sicher, was die Wahrheit ist, aber ich sage sie dir nicht!“ Das ist die Logik der Lüge. Die Lüge ist eine Form von Rückzug, von Abschottung gegenüber den anderen, aus welchen Gründen auch immer. Sicher ist: Der Lügner ist ein selbstsicherer Mensch – und zugleich zutiefst einsam.