Wenn man die Wörter „Anarchie“ und „Wissenschaft“ im selben Satz hört, dann horcht man schon einmal kurz auf. Beide könnten ja nicht verschiedener sein: auf der einen Seite Regellosigkeit, auf der anderen Seite totale Regelhörigkeit, auf der einen Seite ein ständiges Improvisieren und Adaptieren, auf der anderen Seite strenge Prinzipien und Axiome. Ist die Wissenschaft nicht der Inbegriff des „sicheren“ Wissens? Geht es der Wissenschaft nicht ausschließlich um feste Tatsachen und um die Ableitung gesicherten Wissens mittels erprobter Regeln? Was soll das also mit Anarchie zu tun haben? Aber wer so denkt, der erliegt einem vereinfachten Bild von Wissenschaft. Das meint zumindest Paul Feyerabend. Ein Blick in die Geschichte zeigt nämlich, dass die Wissenschaft eben nicht so regelhörig ist, wie man meint, sondern dass sie bisweilen sehr sprunghaft, ja geradezu chaotisch verfährt.
Galilei der Trickser
Die Geschichte wird ja bekanntlich von den Siegern geschrieben, und das ist auch in der Wissenschaft nicht anders. Diese Geschichte geht dann ungefähr so: ein brillanter Denker sieht sich vorurteilsfrei die Welt an und erkennt dort ein Problem. Er stellt Hypothesen auf, er experimentiert, zunächst in der Theorie, dann in der Praxis, er sammelt harte Fakten, die er zu einer Theorie zusammenträgt die dann die Lösung für das Problem bereithält. Diese Lösung bewährt sich dann, bis jemand anders kommt und sie perfektioniert. So geht die Geschichte. Bei dieser Geschichte – sagt Feyerabend – werden aber all die Zufälle, Vorurteile, Irrationalitäten und Merkwürdigkeiten geglättet oder ausgeblendet, die ein wichtiger Teil des wissenschaftlichen Prozesses sind. Feyerabend knöpft sich dazu ausgerechnet den Vater der modernen Wissenschaft vor, nämlich Galileo Galilei. Galilei schrieb nicht nur auf Latein, sondern auch auf Italienisch – ein nicht unwichtiger Umstand, denn das half ihm seine Ideen unters Volk zu bringen. Er betrieb darüber hinaus eine aktive und aggressive Propaganda für seine Idee der Bewegung der Erde, die er zu Beginn auch nicht eindeutig beweisen konnte. Vor allem nicht empirisch, denn wenn die Erde sich bewegt, warum fallen die Objekte dann trotzdem senkrecht nach unten? Aber solche Kritik wischte Galilei einfach beiseite, indem er behauptete, dass die Vernunft das übertrumpft, was die Sinne sehen. Das klingt nun aber nicht besonders wissenschaftlich, sondern tatsächlich ein wenig dogmatisch. Das Bild der genialen Galilei, der die Wahrheit auf seiner Seite hat, ist also viel zu simpel. Neben dem Genie gehörten auch sehr viel Selbstbewusstsein, stures Festhalten an den eigenen Überzeugungen, Rhetorik und Schlagfertigkeit dazu. Galileis Entdeckungen wären nicht möglich gewesen, wenn er sich an die vermeintlichen Spielregeln der Wissenschaft gehalten hätte. Feyerabend bemerkt dazu ironisch, dass all die, die glauben, in der Wissenschaft ginge es nur um die Befolgung von Regeln, zur Zeit Galileis wohl eher auf der Seite der Kirche gewesen wären.
Anything goes – alles ist möglich
Feyerabend sagt, dass die Wissenschaft folgt nicht der einen Methode oder dem einen Schema – und gerade darin ist die Wissenschaft eine typisch menschliche Aktivität, wie z.B. auch die Kunst. Aber wenn die Wissenschaft prinzipiell chaotisch ist, wenn sie selbst oft irrational verfährt, dann wäre es naiv zu glauben, dass nur die wissenschaftliche Methode eine Garantie für Erkenntnisfortschritt gibt. Anders gesagt: die Wissenschaft steht für Feyerabend nicht über allen anderen Formen der menschlichen Erkenntnis. Sie ist vielmehr eine Erkenntnisform von vielen, sie hat keine ausgemachte Sonderstellung. Feyerabends Position könnte man „relativistisch“ nennen. Es gibt da einen Slogan, mit dem man oft Feyerabends Denken in Verbindung bringt, und der lautet: „Anything goes“. Anything goes, alles geht, damit meint Feyerabend, dass es wie gesagt nicht die eine Methode gibt, um zu Wissen zu gelangen. Es bedeutet, dass es keinen Methodenzwang gibt, dass es keine Monopolstellung der Wissenschaft gibt. Wir bürden der Wissenschaft eine zu große Last auf, wenn wir glauben, dass sie die Lösung für alle unsere Probleme bietet. Anything goes, das besagt aber auch, dass ganz Verschiedenes auf einmal nebeneinander steht. Dann steht Astrologie auf einmal neben Astronomie, Homöopathie auf einmal neben Onkologie, Meditation auf einmal neben Biochemie. Dieser Gedanken erschreckt natürlich in Zeiten von alternativen Fakten, von Impfgegnerschaft und einem ständigen Kampf um die Wahrheit – 2024 ist eben nicht 1975, als Feyerabends Hauptwerk Against Method erschien. Aber Achtung: die Erkenntnis, dass es viele Zugänge zum Wissen gibt und nicht nur die Monopolstellung einer Wissensform, bedeutet nicht, dass man dabei nicht zwischen guten und schlechten Ansätzen unterscheiden kann. Der Relativist sagt nämlich nicht nur „Alles geht“, sondern er sagt auch, dass manches viel besser geht, als anderes. Man bekämpft Krebs eben halt viel besser durch Chemotherapie als durch Heilfasten. Aber das bedeutet nicht, dass man sich nicht mit Heilfasten auseinandersetzen sollte – und sei es nur um zu beschließen, dass das nichts wert ist. Den Relativismus muss man letztlich immer zusammendenken mit der Aufklärung, und die ist ja bekanntlich (und nach Kant) der Ausgang des Menschen aus der eigenen Unmündigkeit. Mündige, d.h. sich ihres Verstandes bedienende Bürger halten den Relativismus aus und können abwägen, was funktioniert und was nicht. So meinte es Paul Feyerabend, der heute 100 Jahre alt geworden wäre. Und wen das jetzt neugierig gemacht hat, dem empfehle ich seine kürzlich erschienene Vorlesung „Historische Wurzeln moderner Probleme“. Die stammt zwar von 1985, sind aber hochaktuell. Und obendrein amüsant zu lesen.