In seiner kürzlich in Buchform erschienen Konferenz mit dem Titel "Avec les chasseurs-cueilleurs" behandelt der französische Anthropologe Philippe Descola die Gesellschaften der sogenannten Jäger und Sammler. Gleichzeitig räumt er mit einigen sich hartnäckig festhaltenden Mythen auf – wie z.B. der Idee, dass solche Gesellschaften egalitär organisiert seien, dass es also keine Ungleichheiten gäbe. Als Beispiel führt der Anthropologe das Volk der Tolowa an. Die Tolowa sind ein indigenes Volk, ein native american tribe aus dem Nordosten Amerikas, genauer gesagt den Bundesstaaten Kalifornien und Oregon. Trotz eines Genozids im 19. Jahrhundert, bei dem fast 90% der Population von Weißen ausgelöscht wurde, existiert dieser Stamm noch heute. Die Gebräuche des Stammes konnten deshalb gut überliefert werden. So weiß man, dass die Tolowa ein Volk von Jägern und Sammlern waren, die sich hauptsächlich dem Fischfang verschrieben hatten. Die Tolowa waren eine streng hierarchisch, ja beinahe aristokratisch organisierte Gesellschaft. Außerdem war ihnen erstaunlicherweise die Anhäufung von persönlichem Reichtum sehr wichtig. Aus diesem Grund gab es große Ungleichheiten zwischen den Mitgliedern: es gab eine kleine Kaste von Machthabern, es gab reiche Leute, es gab arme Leute, es gab sogar Sklaven.
Biens de prestige – biens de subsistance
Aber – und das ist interessant – die Ungleichheiten zwischen den Mitgliedern beruhten nur auf dem Besitz von Luxusgütern, von biens de prestige, wie Descola es nennt, d.h. auf dem Besitz besonders schöner Muscheln, wertvoller Metalle. Aber die Ungleichheiten betragen niemals den Besitz von lebensnotwendigen Gütern, von biens de subsistance, wie z.B. von Nahrung, Werkzeug oder Kleidung. Reich waren also diejenigen, die viele Luxusgüter anhäuften, und arm waren diejenigen, die keine Luxusgüter besaßen oder die Schulden hatten. Aber alle Stammesmitglieder hatten gleichen Zugang zu lebensnotwendigen Gütern, weshalb auch der Allerärmste keinen Hunger leiden mussten. Descola unterscheidet hier zwischen pauvreté und misère: „Dans le cas des chasseurs-cueilleurs, la pauvreté en biens de prestige ne condamne pas à la misère“.
Nicht alles ist käuflich
Wie ist das möglich? Die Unterscheidung zwischen Luxusgütern und lebensnotwendigen Gütern ergibt sich daraus, dass man das eine nicht gegen das andere eintauschen kann. Viele Muscheln zu besitzen ermächtigt nicht dazu, viele Fische zu kaufen, und umgekehrt ermächtigt der Besitz vieler Fische nicht dazu, viele Muscheln zu erwerben, um dann damit den eigenen Luxus zu vermehren. Wir haben es hier mit zwei verschiedenen Zirkulationssphären zu tun, wie Descola sie nennt. Diese Zirklukationssphären sind gegeneinander abgeschlossen. Oder einfacher gesagt: man kann nicht alles gegen alles eintauschen.
Armut muss nicht misère bedeuten
Das räumt natürlich mit der Idee auf, die sich viele Menschen von solchen Naturvölkern ohne Geldwährung machen und derzufolge der Fischer seinen Fisch beim Jäger gegen Felle eintauscht, nachdem sich beide auf einen angemessenen Tauschwert geeinigt haben. Wir haben es hier aber auch mit einer völlig andere Logik zu tun, als der des kapitalistischen Marktes. Auf diesem Markt kann nämlich immer alles zu Geld gemacht werden und deshalb auch alles gegeneinander eingetauscht werden. Reich in diesem Sinne ist nicht nur, wer die meisten Luxusgüter besitzt, sondern auch, wer die meisten lebensnotwendigen Güter kaufen und vor allem lagern kann. Das ermöglicht nämlich wiederum die Spekulation mit solchen Gütern, was die Armut der anderen nur vergrößert. Armut schlägt sich bei uns und im Gegensatz zu den Naturvölkern immer auch auf den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern aus. Um es einfach zu sagen: Wer arm ist, der muss den Tod fürchten, denn im Kapitalismus ist Armut gleich misère, und misère gleich Todesangst. Ungleichheiten hat es immer schon gegeben und sie sind wohl auch unvermeidlich. Philippe Descola zeigt uns am Beispiel der Tolowa, dass Ungleichheiten jedoch anders organisiert werden können, so dass sie nicht das Leben der ärmsten Gesellschaftsmitglieder aufs Spiel setzen. Die Existenz gegeneinander abgeschlossener Zirkulationssphären macht eine persönliche Bereicherung auf Kosten des Lebens anderer Menschen unmöglich. Ist unser Verständnis von Reichtum und Armut sowie deren lebensbedrohliche Implikationen angesichts dessen nicht ziemlich fragwürdig?