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/ Platons Höhlengleichnis

Prisma

Platons Höhlengleichnis

Mythos und Philosophie - zwischen diesen beiden besteht seit jeher ein konfliktreiches Verhältnis. Während der Mythos ein Denken in konkreten Bildern ist, ist die Philosophie ein Denken in abstrakten Begriffen. Und dennoch greift die Philosophie oft auf Mythen zurück, um ihr abstraktes Wissen zu veranschaulichen. In seiner Serie stellt Lukas Held einige dieser philosophischen Mythen vor und erklärt deren Bedeutung. Heute geht es um Platons Höhlengleichnis und die Frage, wie man jemanden beibringt, dass er nichts weiß.

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6 min

Der Philosoph Lukas Held. Foto: Archiv

Platons Höhlengleichnis

Platons Höhlengleichnis ist einer der berühmtesten Texte der Philosophiegeschichte. Das Gleichnis ist eingebettet in Platons Dialog Politeia, in welchem er seinen Lehrer Sokrates mit einigen anderen Personen über die Vorstellung eines idealen Staates diskutieren lässt. Sehen wir uns den Aufbau dieses Gleichnisses einmal genauer an. Sokrates spricht in der Politeia von einer tief in der Erde liegenden Höhle, und von Menschen, die dort seit ihrer Jugend leben. Diese Menschen sind an den Hälsen und an den Beinen gefesselt - sie können sich also nicht bewegen und auch nicht den Kopf wenden. Ihr Blick fixiert nur die ihnen gegenüberliegende Mauer und die Schatten, die auf diese Mauer geworfen werden. In der Höhle brennt nämlich ein Feuer. Nun sehen diese festgeketteten Menschen jedoch nicht ihre eigenen Schatten, sondern die Schatten von Objekten, die in dieser Höhle hin und her getragen werden - und zwar von anderen Menschen, hinter einer Art Mauer.

Trägt jemand also eine Vase auf dem Kopf, so sehen die Gefangenen den Schatten dieser Vase. Führt einer ein Kamel, sehen sie den Kopf des Kamels. Natürlich halten die Gefangenen diese Schatten für die Realität, und die Laute, die die Grotte erfüllen, verknüpfen sie mit diesen Schatten, in dem Glauben, dass die Schatten die Laute von sich geben. Ihre Realität ist wahrlich eine Schattenwelt - und da sie in der Höhle groß wurden kennen sie es auch nicht anders und haben keinen Grund diese Schattenwelt in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Platon schreibt, dass die Gefangenen sogar Wettbewerbe abhalten darüber, wer am besten erinnert, welche Schatten auf welche folgen, wer die Schattenabfolge am besten deutet. Sogar "Ehrungen, Lobpreisungen und Auszeichnungen" gebe es dafür, schreibt Platon. Wir sehen - die Gefangenen gehen ganz in ihrer Schattenwelt auf.

Nun wird einer der Gefangenen von seinen Ketten losgelöst - warum und von wem wissen wir nicht. Platon sagt uns nur, dass er "genötigt" wird, aufzustehen und sich dem Feuer hinzuwenden. Dem Ex-Gefangenen wird bewusst, dass er bisher nur die Schatten realer Objekte wahrnahm, dass er - wie Platon es schreibt - "damals lauter Nichtigkeiten gesehen [hat]". Der helle Schein des Feuers blendet ihn, seine Augen schmerzen und er versucht sich wieder der ihm bekannten Dunkelheit und den Schatten zuzuwenden. So muss der Befreite aus der Höhle herausgezerrt werden, am Feuer entlang, den "holprigen und steilen Aufgang" der Höhle hinauf, bis ans Tageslicht.

Der Höhlenmensch wird von der Helligkeit geblendet, weshalb sein Blick sich zunächst an die Schatten und die Spiegelungen der Dinge gewöhnen muss, dann an die Dinge selbst, hiernach an das Licht der Sterne und des Mondes bei Nacht, bis er schließlich dazu im Stande ist, das Sonnenlicht selbst zu betrachten. Er sieht die Welt nun so, wie sie ist und begreift mit einem Mal, dass die Schattenspiele in der Höhle nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten.

Darauf hin steigt er wieder hinab in die Höhle, voller Mitleid für seine ehemaligen Mitgefangenen und mit dem frommen Wunsch, sie aus ihrer Unwissenheit zu befreien und ebenfalls ans Licht zu führen, wie man es mit ihm tat. Doch demjenigen, der einmal das Sonnenlicht erblickt hat, macht die Dunkelheit der Höhle zu schaffen, seine Augen gewöhnen sich nicht mehr richtig an die Höhlenfinsternis. Als er unten ankommt, verspotten die anderen Gefangenen ihn.

Er, der das Tageslicht erfahren hat, erkennt die Schatten nun nicht mehr und kann infolge dessen nicht mehr an ihren Schattendeutungswettbewerben teilnehmen. Für die anderen hat der Höhlenausgang ihm die Augen verdorben, hat ihn blind und lächerlich gemacht. Der Schluss des Gleichnisses ist tragisch. Zitat Sokrates "Und wenn [die Gefangenen] den, der es versuchte, sie zu entfesseln und hinaufzuführen, irgendwie in ihre Hand bekommen und umbringen könnten, so würden sie ihn [ohne Zweifel] umbringen."

Zwei Arten von Wissen

Wie jedes Gleichnis ist auch das platonische Höhlengleichnis reich an Interpretationsmöglichkeiten. Ich werde mich jetzt auf eine Deutung konzentrieren, nämlich die pädagogische. Wenn man diesem Deutungsweg folgt, dann versucht man aus dem Höhlengleichnis etwas über die Lehrbarkeit von Philosophie zu erfahren. Denn darum geht es auch in diesem Mythos: um die Frage, wie man jemanden, der in einer Schattenwelt lebt, dazu bewegen kann, diese in Frage zu stellen. Im Höhlengleichnis ist dieser Versuch doppelt tragisch. Der Losgelöste muss unter körperlichen Qualen dazu gezwungen werden, die Wahrheit zu erblicken. Und als er versucht, das von ihm Gesehene den anderen mitzuteilen, wird er umgebracht. Aber warum ist das so? Und muss das so sein?

Im Höhlengleichnis sind zwei Arten von Wissen, zwei Formen der Wahrheit und zwei Verständnisse von Wirklichkeit angelegt. Das durch den Höhlenausgang symbolisierte Wissen steht für die progressive Erkenntnis der Wahrheit. Diese gipfelt in der Wahrnehmung des Lichts der Sonne - die bei Platon für die Idee des Guten steht, aber das führt uns hier zu weit. Wirklich ist, was von sich aus als evident erscheint, nicht hinterfragbar - eben einleuchtend. Darum kann Platon auch nicht einfallen, dass die Außenwelt nur eine weitere Höhle sein könnte. Wahrheit ist den Platoniker etwas, das unmittelbar einsichtig ist und sich als solches zu erkennen gibt.

Eine andere Form des Wissens ist hingegen das Wissen, an dem die Gefangenen in der Höhle selbst arbeiten, in ihren kleinen Schattendeutungswettbewerben. Wahr und wirklich ist hier nicht, was momentan evident, sondern was kohärent und stimmig ist. Und die Wissenschaft, die in der Höhle betrieben wird, dieser Wissenschaftsbetrieb mit seinen Beifallsbekundungen, Promotionen und seinem Konkurrenzdenken, festigt dieses Wirklichkeitsbewusstsein.

Hier, in dieser erkenntnistheoretischen Dichotomie zwischen der Wirklichkeit als Kohärenz und der Wirklichkeit als Evidenz, liegt das Problem. Bei den Gefangenen kann gar kein Bedürfnis nach Wahrheit, kein Wille zum philosophischen Erkenntnisprozess entstehen, da die Einsicht in dieses Bedürfnis ihr Bewusstsein sprengen würde. Oder einfacher gesagt: um das Selbstverständliche in Frage stellen zu können, muss man bereits erkannt haben, dass das Selbstverständliche nicht selbstverständlich ist.

Um die Höhle verlassen zu wollen, muss man bereits erkannt haben, dass man in einer Höhle sitzt, was wiederum voraussetzt, sich eine Außenwelt vorzustellen. Das ist in der Höhle und angesichts der totalen Illusion des Schattenspiels aber nicht möglich. Deshalb muss der Gefangene unter Zwang, Gewalt und Schmerz ans Licht geführt werden; und deshalb ist es ihm auch die unmöglich, das Erfahrene den anderen mitzuteilen.

Von der Lehrbarkeit der Philosophie

Worum es in diesem Gleichnis geht, ist die Philosophie selbst, genauer gesagt deren Lehrbarkeit. Wieso sollte jemand, der in einer für ihn oder sie kohärenten Welt lebt sich auf Distanz zu dieser setzen? Wieso sollte jemand nach der Wahrheit suchen, wenn eigentlich alles Sinn macht? Warum sollte man seinen Lebenslauf in Frage stellen, wenn man doch bei allen Schattendeutungswettbewerben triumphiert hat?

Die Sache ist die: um einer Person beizubringen, was Philosophie ist, worin Philosophie besteht und vor allem warum man sie betreibt, müsste diese Person bereits nachvollziehen können, warum man Philosophie betreibt. Sie muss die Notwendigkeit für die maximale Distanznahme zur Schattenwelt bereits erkannt haben, ehe sie sich auf maximale Distanz zur Schattenwelt setzen kann, was aber voraussetzt, dass sie sich schon implizit auf Distanz zur Schattenwelt gesetzt hat.

Und da bringt es auch nichts, mit Lehren, Problemen und Fragen auf die Unwissenden zuzugehen. Dann würde man nämlich nur ein Selbstverständliches durch ein anderes ersetzen, ohne zum eigentlichen Kern der Sache vorzudringen. Und der Kern der Sache ist eben, dass man selbst die Selbstverständlichkeit in Frage stellt. Philosophieunterricht macht ein Angebot ... und eben nur ein Angebot: nämlich das Angebot, die Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen, und einen eigenen Denkweg einzuschlagen - letztlich ohne den Lehrenden, und vielleicht auch ohne Ergebnis, ohne fertige Antwort, ohne Höhlenausgang, aber in jedem Fall selbst gewollt.

Um diesen Willen zum Höhlenausgang zu triggern, muss der Philosoph stören, nerven, Zweifel sähen - und zwar dort, wo eigentlich alles klar und kohärent ist. Er muss den Wissenschaftsbetrieb als ein Schattenspiel demaskieren, die vermeintlich Triumphierenden als Narren bloßstellen und dabei immer den möglichen Höhlenausgang vor Augen halten. Sokrates wurde vorgeworfen, er verderbe mit seinen Lehren die Jugend - und er wurde dafür zum Freitod durch Vergiftung (den berühmten Schierlingsbecher) verurteilt. "Verderbnis der Jugend" - das ist wohl eines der schönsten Synonyme für Aufklärung.