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/ Ist Geschichte machbar?

Prisma

Ist Geschichte machbar?

Lässt sich Geschichte machen, oder haben wir keinen Einfluss darauf? Hegel zeigt uns, dass die Geschichte nicht von denen gemacht wird, die dies lautstark behaupten, erklärt der Philosoph Lukas Held.

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6 min

Foto: Archiv

Rue des deux Empereurs

Falls Sie einmal das große Glück haben, auf der wunderschönen Insel Korsika verweilen zu dürfen, rate ich Ihnen zu einem Ausflug nach Bonifacio. Einmal in dieser Küstenstadt angekommen lassen Sie den Hafen links liegen und steigen stattdessen zunächst die Montée Rastello und anschließend die Montée Saint Roch hinauf. Verschnaufen Sie dann kurz unter der Porte de Gênes, und begeben Sie sich dann in die Rue des deux Empereurs.

Nach wenigen Metern werden Sie zu Ihrer linken die Hausnummer 4 finden. Neben der massiven Tür werden Sie eine kleine Plakette entdecken, die darauf hinweist, dass Charles Quint vom 3. bis zum 6. Oktober 1541 in diesem Haus verweilte.

Wenn Sie sich nun umdrehen, werden Sie auf eine weitere Plakette stoßen, diesmal neben der Hausnummer 7. Diese Plakette informiert sie darüber, dass der junge Napoléon Bonaparte vom 22. Januar bis zum 3. März 1793 eben dort verweilte, also etwas mehr als 250 Jahre später.

Und dann mögen Sie vielleicht eine gewisse Schönheit darin erkennen, dass zwei der bedeutendsten Männer der Menschheitsgeschichte, hier, in diesem unscheinbaren korsischen Gässchen nur wenige Meter voneinander übernachtet haben - wobei zumindest Napoléon damals noch gar nicht wusste, dass er überhaupt jemals in die Geschichte eingehen würde.

Die Weltseele, auf einem Pferde sitzend

Georg Wilhelm Friedrich Hegel war zwar nie auf Korsika, aber er hatte das Privileg, Napoléon selbst zu Gesicht zu bekommen, als dieser im Jahre 1806 kriegerisch in Jena tätig war. Hegel schreibt, schwer beeindruckt, an einen Freund:

"Den Kaiser - diese Weltseele - sah ich durch die Stadt zum Rekognosieren hinausreiten; es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einem Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht."

Diese Anekdote ist übrigens so bekannt und wurde so oft erzählt, dass sich ihr Wortlaut verändert hat: aus der "Weltseele" wurde späterhin "der Weltgeist zu Pferde", was Hegel allerdings nie gesagt hat, obwohl es zugegeben mehr punch hat.

Napoléon muss jedenfalls einen bleibenden Eindruck bei Hegel hinterlassen haben, denn fast genau 30 Jahre nach dieser Begegnung setzt er sich im Rahmen seiner Vorlesung über die Philosophie der Geschichte eingehend mit Napoléon auseinander - und nicht nur mit dem französischen Kaiser, sondern auch mit Cäsar und Alexander dem Großen. Hegel schreibt dort:

"Die welthistorischen Menschen, die Heroen einer Zeit, sind darum als die Einsichtigen anzuerkennen; ihre Handlungen, ihre Reden sind das Beste der Zeit. [...] Deshalb folgen die andern diesen Seelenführern, denn sie fühlen die unwiderstehliche Gewalt ihres eignen inneren Geistes, der ihnen entgegentritt."

Seelenführer, die unseren inneren Geist reizen? Weltseele? Diese Begriffe klingen zugegeben etwas schief in unseren Ohren. Ist Hegel etwa der Meinung, dass die Geschichte von einer Art Geist durchzogen ist, der sich in einigen besonderen Individuen inkarniert, sozusagen als Werkzeuge der Geschichte?

Ist es gar dieser Weltgeist, der Napoleon und Charles Quint in dieselbe Gasse getrieben hat? Oder meint Hegel hingegen, dass einzelne Menschen die Geschichte machen, also aktiv und selbstbewusst ihren Verlauf bestimmen? Und ganz allgemein gefragt: lässt sich Geschichte eigentlich machen? Macht sie sich irgendwie selbst, oder wird sie gemacht? Und wenn ja, von wem?

List der Vernunft

Das Problem ist ja das folgende: offensichtlich gibt es sie, die Akteure der Geschichte, die durch ihre Entscheidungen und Handlungen im richtigen Moment den historischen Verlauf maßgeblich bestimmen. Und dennoch, obwohl die Geschichte also von diesen Akteuren "gemacht" zu werden scheint, folgt sie offenbar doch einer Art innerer Logik, die eben nicht mit dem Willen ihrer Akteure übereinstimmt. Alexander, Cäsar und Napoleon haben z.B. gemeinsam, dass sie die Geschichte eben nicht völlig zu ihren Gunsten verändern konnten, sondern glorreich dabei scheiterten.

Um diese spezielle Dynamik zwischen dem Willen der einzelnen Akteure und dem sonderbaren Eigenwillen der Geschichte miteinander zu verbinden, formuliert Hegel das Konzept der "List der Vernunft". Damit meint er, dass die einzelnen Akteure der Geschichte zwar ihren jeweils eigenen Willen durchsetzen, dass dieser Wille aber nicht ihnen alleine gehört, sondern immer auch Teil an einem allgemeinen Willen hat.

Indem der geschichtliche Akteur diese oder jene Entscheidung trifft, trägt er zugleich zur Erfüllung eines Willens bei, der in seiner individuellen Handlung bereits angelegt ist, von der er selbst aber keine klare Kenntnis hat.

Das ist - zugegeben - etwas mysteriös. Bedeutet es etwa, dass Cäsars Entscheidung, den Rubikon zu überqueren, ihm nicht alleine gehörte, sondern eigentlich der Wille eines in der Geschichte waltenden Weltgeists war?

Man hat Hegel tatsächlich so gelesen, und daran kritisiert, dass er die Menschen ihrer geschichtlichen Handlungsfreiheit beraubt- und obendrein auch noch ihrer historischen Verantwortung. Wenn wir schließlich nur die Funktionäre des Weltgeists sind, was können wir dann noch selbst zur Geschichte beitragen? Und ohne Freiheit gibt es bekanntlich keine Verantwortung.

Geschichte machen bedeutet, sie neu zu schreiben

Man kann Hegel meiner Meinung nach jedoch auch anders lesen. Dazu muss man sich ins Gedächtnis rufen, dass sich Geschichte nicht in die Zukunft schreiben lässt. Unser Blick auf die Geschichte ist immer ein Blick in die Vergangenheit, ausgehend von unserer immer partikularen Position in der Gegenwart.

Dasselbe gilt natürlich auch für die welthistorischen Individuen, die natürlich nicht wissen, ob ihre Taten einmal als historische in die Weltgeschichte eingehen. Was tat Cäsar also wirklich, als er den Rubikon überschritt? Nun, er war sich sehr wohl der Ereignishaftigkeit seiner Tat bewusst - und der berühmter Ausspruch alea iacta est, also Der Würfel ist gefallen, belegt das in aller Deutlichkeit.

Allerdings konnte Cäsar keinen Begriff davon haben, was diese Tat für die Zukunft bedeutet. Er wusste nur, dass diese Handlung seine eigene Geschichte verändern würde, d.h. dass sein eigenes Leben nach dieser Entscheidung in einem völlig anderen Licht stehen würde - denn entweder gelingt ihm der Marsch auf Rom, oder er scheitert und wird vergessen. Und vielleicht liegt die Größe einer Handlung ja in diesem Mut zum Risiko, nämlich zu dem Risiko, für immer vergessen zu werden.

Hegels Theorem der "List der Vernunft" besagt eben nicht, dass die Zukunft immer schon irgendwie feststeht, es besagt nicht, dass die Überschreitung des Rubikons schon vorbestimmt war. Die "List der Vernunft" besagt, dass gewisse Handlungen die Art und Weise verändern, wie wir die Vergangenheit als Ganzes interpretieren.

Als Cäsar den Rubikon überquerte, als Napoléon sich zur Rückkehr aus dem Exil entschied, als Lenin die Oktoberrevolution ausrief markierten sie nicht eine neue Zukunft, sondern veränderten vielmehr die Vergangenheit, genauer gesagt die Art und Weise, wie wir die Vergangenheit verstehen, deuten und erzählen.

Das klingt paradox, denn es widerspricht unserem Bild von der Vergangenheit als einer abgeschlossenen, unwiderruflichen Zeit. Aber genau darin besteht die List der Vernunft - sie rückt die eigene und die historische Vergangenheit in ein neues Licht rückt - weshalb aus einem siegreichen Kaiser ein trauriger Exilant werden kann. Und das ist vielleicht die wichtigste Lehre aus Hegels "List der Vernunft".

Sie lehrt uns Vorsicht gegenüber all den vermeintlich "historischen Momenten" und den "weltbewegenden Entscheidungen", die regelmäßig beschwört werden, z.B. von Journalisten oder von Politikern. Hegel zeigt uns, dass die Geschichte nicht von denen gemacht wird, die dies lautstark behaupten, sondern von jenen, die das Risiko eingehen, gar nicht erst in der Geschichte aufzutauchen bzw. aus ihrem Gedächtnis zu verschwinden.