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/ Über das Mitleid

Seismograph

Über das Mitleid

D'Matleed ass wuel eng vun de stäerkste mënschlechen Emotiounen - esou staark, datt d'Matleed eis heiansdo iwwer eis selwer eraus wuesse léisst. Dann hëllefe mir anere Mënschen, ouni un eis selwer ze denken. Wat sinn d'Méiglechkeeten a wou leien d'Grenze vun eisem Matleed?

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4 min

Der Philosoph Arthur Schopenhauer - das darf man mit Fug und Recht behaupten - war kein großer Menschenfreund. Vielleicht machte ihn genau das zu einem besonders scharfen Beobachter unserer Gattung. "Mancher Mensch wäre im Stande, einen andern totzuschlagen, bloß um mit dessen Fette sich die Stiefel zu schmieren", schrieb er einmal. Und Schopenhauer schrieb auch noch folgendes: "Der Egoismus ist kolossal: er überragt die Welt. Denn, wenn jedem Einzelnen die Wahl gegeben würde zwischen seiner eigenen und der übrigen Welt Vernichtung, so brauche ich nicht zu sagen, wohin sie bei den Allermeisten ausschlagen würde."

Pessimismus - zu unrecht?

Schopenhauer hatte offensichtlich eine eher pessimistische Weltsicht - doch nicht ganz zu unrecht. Wohin man blickt, der Egoismus ist tatsächlich allgegenwärtig. "Zuerst ich, dann die anderen" - das ist die Devise, nach der die Menschen leben. Das muss auch nicht unbedingt problematisch sein, denn schließlich ist das meiste dessen, was wir tun, letztlich in unserem Interesse. Problematisch wird der Egoismus dann, wenn man dadurch einem anderen Menschen Schaden zufügt, bspw. wenn man den Kollegen beim Chef anschwärzt, nur um selbst besser da zu stehen.

Das kann sich sogar noch steigern, hin zur Schadenfreude, zum Neid, zum Übelwollen - kurz: zum Teuflischen in uns Menschen. Nun hatte auch Arthur Schopenhauer erkannt, dass wir Menschen nicht nur Egoisten sind - obwohl er der Meinung war, das Gegenteil komme nicht sonderlich häufig vor. Er spricht von den wenigen Aequi (also den Gerechten) in einer Unmengen von Iniqui (also den Ungerechten). Und diese Menschen seien zu wahrhaft moralischen Handlungen fähig.

Für Schopenhauer liegt das Kriterium einer moralischen Handlung in der Abwesenheit jeglicher egoistischen Motivation in dieser Handlung. Sobald eine Handlung ein solches egoistisches Element enthält, kann man sie für Schopenhauer nicht mehr als eine moralisch gute Handlung bezeichnen. Aber sobald wir etwas nur um eines anderen Menschen willen leisten, haben wir es mit einer moralischen Handlung zu tun. Für Schopenhauer steht das Mitleid in diesem Kontext paradigmatisch. Im Mitleid wird nämlich die Grenze zwischen mir und dem anderen aufgelöst, denn im Mitleid versetze ich mich tatsächlich an die Stelle des anderen.

Das Mitleid - mehr als nur Mitgefühl

Das ist mehr als das reine Mitgefühl. Beim Mitgefühl bleibt nämlich die Trennung zwischen mir und dem anderen intakt. Ich habe Mitgefühl mit dir, ich kann dir mein Beileid verpflichten, aber nur, weil ich und du verschieden sind. Beim Mitleid hingegen - so meint es Schopenhauer - lösen sich die Grenzen zwischen mir und dir auf, so dass ich dein Leid spüre, als sei es mein eigenes. Oder besser gesagt: ich spüre das Leid, das du auch verspürst, wir haben beide Teil am selben Leid, wir sind im Leid miteinander vereint.

Schopenhauer sieht hier wirklich die Auflösung des Individuellen, hin zum Gemeinsamen, das uns Menschen vereint. Das Mitleid ist eine spontane und authentische Manifestation unseres Wunsches, anderen beizustehen und ihr Leid zu lindern - und das, ohne dass dahinter irgendein Kalkül steckt.

Das Mitleid macht uns zu wahrhaft moralischen Wesen, denn es erhebt uns über unsere egoistischen Impulse und Begierden. So kommt es zu einem Gefühl der Solidarität und Gemeinschaft mit den anderen Menschen. Deshalb sind wir Menschen tatsächlich zu den unglaublichsten Taten fähig. Ich finde Schopenhauers Gedanken sehr interessant, weil seine Ethik eben nicht auf einem abstrakten Prinzip oder auf irgendwelchen absoluten Regeln beruht, sondern auf der konkreten und gelebten Erfahrung des Mitleids.

Mitleid setzt Nähe voraus

Aber es gibt ist ein großes Problem dieser ethischen Vorstellung: Es fällt uns Menschen schwer, Mitleid aufzubauen für leidenden Menschen, die weit von uns entfernt sind. Mitleid setzt Nähe voraus! Tragischerweise ist unsere Welt nicht auf Nähe angelegt, sondern im Gegenteil auf Distanz.

Das hat auch mit der Verlagerung unseres Lebens ins Digitale zu tun. Wir können uns in dieser Welt amüsieren, wir können schockiert sein, uns empören, wir können berührt sein und oft auch schadenfroh - aber können wir in der digitalen Welt wirklich Mitleid haben? Können wir authentische Nähe aufbauen? Das scheint mir sehr schwierig. Aber das Mitleid bedarf nicht nur der räumlichen Nähe, sondern auch zeitlichen. Wir können uns zwar vorstellen, dass in Zukunft viele Menschen schrecklich unter der menschgemachten Klimakatastrophe leiden und wohl auch sterben werden.

Wir können es vorstellen und denken, aber können wir es auch fühlen? Dazu scheinen wir Menschen nicht in der Lage zu sein. Deshalb ist es so wichtig, nicht nur zu denken, sondern die Gedanken in Geschichten einzubetten, in Bilder, Filme, Texte, in Fantasie. Wir müssen uns die Weltlage nicht nur denken und verstehen, sondern wortwörtlich vor Augen führen. So können wir vielleicht Mitleid in uns wecken - und solidarisch und vorausschauend handeln.