Radioen

On air

Tockcity  |  Noah And The Loners - Crash Landing

play_arrow Live
arrow_back_ios

100komma7.lu

100komma7.lu

/ Selbstbewusstsein

Prisma

Selbstbewusstsein

Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde vor 250 Jahren in Stuttgart geboren. Seine Dialektik von Herr und Knecht ist eine der berühmtesten Stellen in seinem Werk.

auto_stories

6 min

Der Philosoph Lukas Held. Foto: Archiv

Best-Of Hegel

"Das Selbstbewußtseyn ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes". Mit diesem Satz beginnt das wohl berühmteste Kapitel aus Hegels Hauptwerk, der "Phänomenologie des Geistes" von 1807. Diese Passage wurde als die sogenannte "Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft" zum allgemeinen philosophischen Kulturgut.

Wir sahen, dass für Hegel das "Wahre das Ganze" ist. Deshalb ist es so schwierig und eigentlich auch widersinnig, einzelne Momente aus seinem Denken herauszupicken, so als ob man eine Art Best-Of zusammenstellte. Hegel hat immer wieder betont, dass es ihm um das Ganze geht, um das Einigende, nicht um das Vereinzelte, nicht um das Spezielle, nicht um die einzelnen -logien, sondern um das Verständnis des Ganzen, das sich nur als Totalität verstehen lässt. Darin liegt m. E. die größte Schwierigkeit für das Verständnis seines Denkens: Hegel macht es sich und uns nicht einfach, weil die Einfachheit, die Simplizität, dem, was er behandeln möchte, also dem Ganzen, gar nicht gerecht werden kann.

Der Versuch, die Dinge begrifflich zu fixieren, sie auf den Punkt zu bringen, so als ob man dann alles über sie gesagt hätte, ist unmittelbar zum Scheitern verurteilt. Gerade deshalb büßt Hegel nichts an seiner Faszination ein, weil er immer dazu auffordert, neu gelesen zu werden, d. h. neu verstanden und neu widerlegt zu werden. Aber zugleich gibt es wohl kaum einen anderen Philosophen, der so sehr auf einige Slogans, Bonmots und Gleichnisse reduziert wurde, wie Hegel. Die Dialektik von Herr und Knecht ist eine dieser Reduktionen, und als solche müssen wir sie identifizieren, bevor wir uns mit ihr befassen - und das wäre hiermit jetzt erledigt.

Also dann, der Herr und der Knecht: was hat es damit auf sich? Die Ausgangsfrage klingt bereits im vollständigen Titel der Passage an, der lautet "Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewußtseins". Es geht genauer gesagt um die Frage, wie so etwas wie Selbstbewusstsein, also die Erfahrung, dass ich mir selbst als denkendem Wesen bewusst bin, sich konstituiert. Hegels Antwort darauf lautet: um meiner selbst bewusst sein zu können, bedarf es eines anderen - und zwar nicht eines anderen Objekts, sondern eines anderen Subjekts, eines anderen Ich. Damit zeigt Hegel an, dass menschliches Selbstbewusstsein nur im Rahmen der Gesellschaft möglich ist, dass es also eben nicht der reinen Introspektion entspringt, sondern ein Produkt der sozialen Existenz des Menschen ist. Hegel illustriert diesen Sachverhalt an einer Art Ur-Fiktion in Form einer Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen, aus denen der eine als Herr und der andere als Knecht hervorgeht.

Herr und Knecht

Sehen wir uns das etwas genauer an: Es stehen sich also zwei Individuen gegenüber, die im jeweils anderen das eigene Ich erkennen. Da das Ich hier aber als ein anderes auftritt, entsteht der Wille, dieses Andere wieder zum Eigenen zu machen, es sich quasi einzuverleiben. Oder anders gesagt: der eine will den anderen zerstören um seine Einzigartigkeit zu wahren. Die hegelsche Urszene ist also ein Kampf, der entweder mit dem Tod des einen, oder mit der Unterwerfung des einen unter den anderen, also des Knechts unter den Herrn endet.

Nur dieser letzte Fall interessiert Hegel, denn würde der eine den anderen tatsächlich töten, ginge ihm die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis verloren. Schließlich führt der Weg zum Selbstbewusstsein unweigerlich über den Anderen, in dessen Blick ich mich erst als seiend erkenne. Das muss man sich mal kurz auf der Zunge zergehen lassen: erstens begreifen wir uns nur über das hinweg, was wir nicht sind; zweitens ist es unser erster Drang, diesen Anderen zu zerstören, um wieder völlig wir selbst sein zu können, dabei aber völlig ohne Selbsterkenntnis, beinahe so als ob wir uns davor fürchteten, uns selbst zu erkennen; drittens beschließen wir den Anderen nicht zu töten, sondern ihn stattdessen zu unterwerfen.

Aber warum eigentlich, warum unterwerfen wir den anderen? Nun, für Hegel ist das Bedürfnis nach "Anerkennung" zentral für das Individuum, und dieses Bedürfnis kann natürlich nur in einem sozialen Gefüge befriedigt werden. Der Herr ist das Individuum, das sein Leben riskiert hat und aus diesem Kampf souverän hervorgegangen ist, während der Knecht sein Leben - um es zu bewahren - in den Dienst des Herrn stellt und die Souveränität des Herrn "anerkennt". Der Herr hingegen erkennt nicht den Knecht an, der ihm schließlich nur dient. Durch seinen Dienst befreit der Knecht den Herrn von der Last, selbst arbeiten, d. h. selbst für sein Leben sorgen zu müssen, während der Knecht sich die Dinge, die er bearbeitet, selbst aneignen muss.

Aber eben dadurch gewinnt der Knecht eine neue, eine andere Form der Souveränität, nämlich die, durch das eigene Handeln, durch die eigene Arbeit sein Leben bestreiten zu können - eine Souveränität, die der Herr seinerseits aufgegeben hat. Die ursprüngliche Abhängigkeit des Knechts vom Herrn, dem er schließlich sein Leben verdankte, wird umgekehrt zu einer Abhängigkeit des Herrn vom Knecht. Durch seine Arbeit sichert der Knecht die Existenz des Herrn ebenso wie die eigene, was ihn unabhängig vom Wohlwollen eines anderen macht. Das bedeutet, dass in dem Moment, in dem der Herr seine Machtposition fixiert, er sie bereits verliert, während der Knecht sich seinerseits durch seine Unterwerfung zu einem unabhängig handelnden, sich selbst in seiner Arbeit verwirklichenden Individuum entwickeln kann.

Dieselbe Dynamik gilt auch für die Anerkennung: indem er den Knecht nicht als eigenständiges Individuum anerkennt, ja ihn eigentlich zum Objekt degradiert, verwehrt sich der Herr selbst die Anerkennung durch ein ihm gleichgestelltes Individuum. Kurz: der Herr wird Knecht dadurch, dass er sich zum Herrn erhebt.

Ur-Fiktionen

An dieser Stelle will ich eine kleine Klammer öffnen. Philosophen greifen oft auf solche fiktionalen Szenarien zurück, um das zu konkretisieren, was sie spekulativ, also rein geistig konstruiert haben. Meist sind diese Gleichnisse, Metapher oder Parabeln so offen formuliert, dass man sehr viel in sie hineininterpretieren kann. Zum Glück, will ich sagen, denn dadurch werden sie zu fruchtbaren Stellen, die immer wieder neu gelesen und gedeutet werden können. Karl Marx besetzte die Stellen des Herrn und des Knechts durch die sozialen Klassen Bourgeoisie und Proletariat und sah in der Umkehrbewegung des Knechts zum heimlichen Herrn die Struktur des Klassenkampfs.

Der einflussreiche französische Philosoph Alexandre Kojève ging hin und machte daraus ein allgemeines geschichtliches Prinzip. Die feministische Philosophin Judith Butler wiederum liest die Szene ethisch, nämlich als Feststellung der wesentlichen Abhängigkeit aller Menschen voneinander, insofern wir untrennbar mit den anderen verbunden sind. Das macht den philosophiegeschichtlichen Stellenwert dieses Gleichnisses aus: dass man an ihm die jeweils eigenen Gedanken erproben kann.

Zum Abschluss möchte ich den Blick aus der Nachgeschichte auf die Vorgeschichte des Gleichnisses lenken, denn dass Hegels Wahl gerade auf das Verhältnis zwischen Herrn und Knecht gefallen ist, dürfte kein Zufall gewesen sein. Susan Buck-Morss hat in ihrem lehrreichen Werk mit Titel "Hegel und Haiti" darauf hingewiesen, dass der haitianische Sklavenaufstand sowie die daraus resultierende Proklamation Haitis als unabhängiger Staat im Jahre 1804 als Inspirationsquelle gedient haben könnte. Tatsächlich findet Hegel hier die Realisierung der letzten Etappe der dialektischen Bewegung vor: der Knecht - also der Sklave - wird zu einem wahrlich freien und unabhängigen Wesen, in dem Moment, in dem er seinerseits sein Leben riskiert, um der Knechtschaft - d. h. der Sklaverei - zu entkommen. Erst wenn er sich selbst befreit, kann ihm die Anerkennung des Herrn, der nicht mehr Herr ist, zuteil werden.

"In diesem historischen Moment - so Buck-Morss - berührten sich Theorie und Realität. In der Sprache Hegels ausgedrückt: das Vernünftige - die Freiheit - wurde Wirklichkeit." Und dem habe ich auch nichts mehr hinzuzufügen.