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Seismograph

Tinnitus

Diese Woch war der internationale Tag des Gehörs. Anlass um auf Tinnitus aufmerksam zu machen, von dem anscheinend ein Viertel der Bevölkerung in westlichen Ländern betroffen ist.

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3 min

Anscheinend ist Viertel der Bevölkerung in westlichen Ländern davon betroffen - wenn man den Statistiken glauben kann. Wobei man unterstreichen muss, dass nur ein Bruchteil der Betroffenen an chronischem Tinnitus leidet, also die Ohrengeräusche länger als 6 Monate vernimmt. Tinnitus bezeichnet nämlich genau das: ein Ohrengeräusch. Meistens ein Piepsen, oder ein Dröhnen, oder ein Klingeln, oder ein Rauschen. Es gibt sogar Fälle, in welchen der Tinnitus als ein Flüstern wahrgenommen wird. Jedenfalls ist Tinnitus streng genommen weniger eine Krankheit als ein Symptom. Manchmal ist er Symptom für ein psychisches Leiden wie Stress, aber meist der Ausdruck eines physischen Schadens im Innenohr - in meinem Fall z.B. hervorgerufen durch einen Discobesuch im Alter von 15 Jahren.

Ein inexistentes Geräusch?

Nun ist der Tinnitus eine ganz eigenartige und philosophische nicht ganz uninteressante Sache. Er wirft z.B. das Problem der Verbindung zwischen Bewusstsein und Körper auf. Der Tinnitus ist ja nur für den oder die Betroffene hörbar, er kann niemals von anderen wahrgenommen und auch nicht empirisch bewiesen werden. Dabei ist das Gehör ja das passive Organ par excellence - der Großteil dessen, was man hört, kommt von außen ins Gehör und kann potentiell immer auch von anderen gehört werden. Aber eben nicht der Tinnitus, denn er ist ein Ton, den es gar nicht gibt. Das was in deinem Ohr ist, kann nicht raus, und das, was draußen ist, kann je nach Tonlage auch nicht mehr wahrgenommen werden, weil der Tinnitus es überdeckt. Ich höre z.B. keine Mücken mehr, weil ihr Flügelschlag auf meiner Tinnitusfrequenz liegt. Also es gibt diesen Ton tatsächlich, denn ich höre ihn ja und leide daran - aber zugleich gibt es ihn auch nicht, denn der Ton ist nur eine Illusion, die mein Gehirn aufgrund einer Störung im Innenohr generiert. Das falsche Signal, das die kaputten Haarzellen an mein Gehirn senden, interpretiert dieses als ein ständiges Pfeifen. Und weil es sich um einen Phantomschmerz handelt, bleibt den Betroffenen leider nicht viel mehr übrig, als das Symptom zu ignorieren. Man muss lernen, einfach wegzuhören, mit dem ungebetenen Gast zu leben. Denn je mehr Platz man dem Symptom lässt, desto kränker wird man selbst. Auch das macht dieses Leiden so einzigartig: der einzige Weg zur Heilung besteht in der Indifferenz bzw. in der Akzeptanz.

Die Außenwelt wird zur Innenwelt

Man ist allein mit seinem malheur, aber irgendwie auch nicht, denn der Tinnitus ist ja heutzutage ziemlich weit verbreitet, eine Volkskrankheit sozusagen. Krankheiten sind immer auch eine Spiegel der Gesellschaft, die an ihnen krankt. Die heutige Welt ist laut, zu laut, und als Reaktion auf diese laute Umgebung dreht man die Lautstärke der Musik in den Ohrenstöpsel noch höher, um sich ganz isoliert in seiner bubble zu bewegen. Der Tinnitus ist dann sozusagen die Reflexion der Lautstärke der Umwelt in uns selbst. Er ist zudem die Isolation, die wir eben nicht freiwillig suchen, sondern in der wir auf Lebzeiten gefangen sind.

Gott, ich erhöre dich

Tinnitus gibt es aber nicht erst seit heute. Tatsächlich belegen Texte aus dem antiken Babylon sowie dem alten Ägypten, dass schon damals Menschen an Tinnitus litten. Man glaubte jedoch, der Tinnitus würde nicht vom Ohr selbst, sondern von einer höheren bzw. einer äußeren Instanz verursacht. Den Betroffenen wurden manchmal sogar besondere Kräfte attestiert, bspw. prophetische Fähigkeiten. Das hat auch damit zu tun, dass das Akustische damals sozusagen der "göttliche Kanal" war. Das was wir sehen, kann immer verfälscht sein, aber auf das, was wir hören, haben wir keinen Einfluss - weshalb man die höheren Mächte immer hört oder erhört statt sie zu erblicken. Sicherlich hatte Sokrates auch deshalb einen daimon, also eine innere Stimme im Ohr, die ihn in seinem Denken leitete. Und nicht vor Augen. Aber das ist eine sehr antike Idee - heutzutage bestimmen wir selbst darüber, wie wir diese Ohrengeräusche deuten und wie wir mit ihnen umgehen. Denn: ich bin nicht mein Gehirn, mein Bewusstsein ist mehr als das, was mein Hirn produziert. Und deshalb bin ich auch nicht die Illusionen meines Hirns.