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Prisma

Die ewige Wiederkehr

Allgemein geht man davon aus, dass der Mythos ein Denken in konkreten Bildern und die Philosophie ein Denken in abstrakten Begriffen ist. Und dennoch greift die Philosophie oft auf Mythen zurück, um ihr abstraktes Wissen zu veranschaulichen. In seiner Serie stellt Lukas Held einige dieser philosophischen Mythen vor und erklärt deren Bedeutung. Heute geht es um den Mythos der ewigen Wiederkehr.

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7 min

Linie oder Kreis?

Allgemein stellt man sich die Zeit als eine Linie vor, die irgendwo ihren Anfang hat und geradlinig in eine Richtung läuft. Nun besteht eine Linie ja aus vielen Punkten. Den Punkt auf der Zeitlinie, an dem wir uns jetzt gerade befinden, den nennen wir die Gegenwart. All die Punkte, die vor dem jetzigen Zeitpunkt liegen, nennen wir die Vergangenheit. Bei sehr weit entfernten Punkten spricht der ein oder andere auch von Geschichte. Und all die Punkte, die noch kommen, nennen wir die Zukunft. So weit, so klar.

Nun beeinflusst diese Zeitvorstellung unser Leben und Denken ganz gewaltig. Wir gehen z.B. davon aus, dass es eine Welt vor unserer Existenz gab und dass nach unserem Tod die Welt weiter existieren wird, eben in der Zukunft. Aus diesem Grund investieren wir Zeit und Energie in Projekte, die unser Leben übersteigen - wie ins Kinderkriegen, Firmen managen, Bücher schreiben und Häuser bauen.

Des Weiteren sind wir der Meinung, dass unsere Handlungen in der Gegenwart die Zukunft beeinflussen, dass wir also die Zukunft gestalten können. Nicht zuletzt haben wir den Eindruck, dass sich alles in einem ständigen Wandeln und Werden befindet. Die Vergangenheit ist vergangen und was die Zukunft bringt ist ungewiss. Sicher ist jedoch, dass alles wird. Der Pfeil - so scheint es zumindest - läuft schnurgerade in Richtung Zukunft. Und wir, die wir gerade existiere, sind für einen Moment Teil dieser Zeitlinie.

Stellen Sie sich einmal vor, diese Linie sei eben nicht schnurgerade, sondern etwas gekrümmt. Stellen Sie sich nun vor, diese krumme Zeitlinie liefe so lange weiter, bis sie an ihren eigenen Anfang käme. Stellen Sie sich anders gesagt vor, die Zeit sei keine gerade Linie, sondern ein Kreis.

Was würde das bedeuten? Nun, wenn die Zeit zyklisch ist, dann gibt es eine begrenzte Anzahl Zeitpunkte, die immer wiederkehren. Es bedeutet, dass die kurze Zeitspanne, die wir unser Leben nennen, nicht für immer verloren ist, sondern irgendwann noch einmal wiederkommt. Es bedeutet aber auch, dass diese Zeit schon einmal da war, dass dieses Leben schon einmal gelebt wurde. Unsere schöne Dreifaltigkeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird nun kräftig durcheinandergewirbelt.

Die Vergangenheit kann nun selbst wieder zur Zukunft werden, zu einer Zukunft, die bereits unendlich oft Vergangenheit gewesen ist. Um es ganz einfach zu sagen: was ich erlebt habe, werde ich wieder erleben. Die Dinge, die geschehen sind, werden wieder geschehen, in einer unendlichen Abfolge von Zeitumdrehungen. Es bedeutet in letzter Konsequenz, dass ich keinen Einfluss habe auf die Zukunft.

Es scheint mir vielleicht so, als ob meine Handlungen die Zukunft prägen. Tatsächlich ist das, was noch kommen wird, aber schon unendlich oft geschehen und wird noch unendlich oft geschehen. Anders gesagt: nichts wird mehr, alles ist immer schon. Das ist - in ebenso kurzer wie schockierender Form - der Grundgedanke des Mythos der ewigen Wiederkehr.

Zyklische Zeitstruktur

Nun ist die Vorstellung einer zyklischen Zeit ein sehr alter Gedanke, viel älter als die (gesamtgeschichtlich gesehen relativ neue) Idee einer linearen Zeit. Man findet diese Vorstellung in archaischen Kulturen, deren Zeitverständnis sich eng an der Natur und ihrer Zyklizität orientiert. Denken Sie einmal an den Wechsel der Jahreszeiten, aber auch an die stete Regelmäßigkeit der Mondphasen ebenso wie die Bewegungen der Sterne.

Warum sollte es mit uns da nicht genau so sein? Warum sollte unsere Zeit nicht teilhaben an diesem konstanten Rhythmus, der doch anscheinend die Welt zu bestimmen scheint? Das ist der Grundgedanke hinter dieser archaischen Zeitvorstellung. Unsere kleine persönliche Zeit, unsere individuelle Geschichte ist wertlos angesichts des Großen Ganzen, an dem wir teilhaben. Denn nur dieses Große Ganze gibt dem Leben seine Form und seine Logik. Heute erscheint uns diese Zeitvorstellung durchaus befremdlich.

Tatsächlich war sie in vielen Kulturen aber sehr lange vorherrschend - auch im philosophischen Denken. In der antiken Philosophie z.B., also bei den Vorsokratikern, bei Sokrates selbst sowie bei Plato und Aristoteles, gibt es gar keine Vorstellung von einer Menschheitsgeschichte, für die man sich interessieren könnte.

Für die antiken Denker war unsere Welt das Reich des Partikularen, der Vielfalt, der Verschiedenheit, des Diffusen - also all dessen, wofür sich ein antiker Philosoph nicht interessiert. Der ist nämlich auf der Suche nach dem Einen, dem Einheitlichen, dem Wesen hinter den Erscheinungen. Oder einfacher gesagt: anstatt sich für das Werden zu interessieren, interessiert sich der antike Philosoph für das Sein, für das Bleibende, das Vollkommene.

Und welche geometrische Figur repräsentiert dies besser als der Kreis? Der Kreis ist in sich geschlossen, sozusagen in sich ruhend, selbstgenügsam und der Kreislauf ist die perfekte Bewegung. Letztlich hat alles was geschieht seinen Grund in dieser perfekten Ordnung, die der Welt ihre Form vorgibt. Irgendwie ist dieser Gedanke beruhigend - was wohl auch der Grund ist, weshalb diese Vorstellung so erfolgreich war und es auch heute noch ist.

Denn auch heute schöpfen sehr viele Menschen Hoffnung in der Idee, dass alles, was geschieht, einen guten Grund hat, dass alles geschieht, weil es so geschehen sollte. Das kann man Schicksal oder Gottes Wille oder Karma oder Sternzeichenbestimmung nennen - es läuft auf dasselbe hinaus.

Nietzsches "Ewige Widerkunft"

Bei genauerer Betrachtung ist die Idee einer zyklischen Zeit aber auch äußerst beunruhigend. Genau diesen Effekt hatte Friedrich Nietzsche im Sinn, als er seine Version der ewigen Wiederkunft des Gleichen (wie er es nennt) formulierte, und zwar in seinem Werk Fröhliche Wissenschaft. Nietzsche schreibt dort folgendes:

"[Stell dir vor]: "Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Große deines Lebens muß dir wiederkommen, und alles in derselben Reihe und Folge - und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht - und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!"."

Zusammengefasst: alles was ist, wird wieder sein und war schon immer. Jeden Moment, den du erlebt hast, wirst du noch einmal haargenau so erleben, wie jetzt gerade. Alle deine Fehlentscheidungen wirst du noch einmal treffen, alles Unglück noch einmal erfahren, aber auch alles Schöne und Gute.

Was macht dieser Gedanke mit dir? Wie würdest du reagieren, wenn es so wäre? Was löst die Vorstellung der ewigen Wiederkunft in dir aus? Nietzsche richtet sich hier ganz direkt an seinen Leser, an mich und an dich. Was wäre, wenn du dein Leben haargenau noch einmal so leben müsstest, wie du es jetzt lebst? Empfindest du Glück oder Verzweiflung bei diesem Gedanken? Und warum?

Man kann darin eine Art philosophischen Test oder gar eine ethische Maxime sehen: Lebe so, als ob du dieses Leben immer wieder leben müsstest! Lebe so, dass du wollen kannst, dass dieses Leben immer wiederkehrt. Allerdings geht es hier um mehr als um Carpe Diem oder #yolo, um mehr als einen hedonistischen Aufruf dazu, jeden einzelnen Moment in vollen Zügen zu genießen.

Es geht vielmehr darum, sich abzuwenden von der Ideologie des Könnens und des Machens; wegzukommen von der Fixierung auf die Zukunft, auf das was noch kommt, aber auch auf das, was man - wie man so schön sagt - erreicht hat. Wenn nämlich alles unendlich oft wiederkehrt und bereits unendlich oft geschehen ist, dann verlieren die Zukunft und die Vergangenheit ihren Stellenwert, weil sie eben nicht von uns gemacht sind. An die Stelle des Könnens und des Machens tritt hier das Müssen: ich muss das Leben leben, so wie es ist, so wie es schon immer war und immer wieder sein wird.

Anstatt dieses Müssen abzulehnen und zu resignieren gilt es vielmehr, dieses ewige Müssen selbst zu wollen. Es geht darum, das zu wollen, was kommt, weil alles, was kommt, so kommt, wie es unendlich oft gekommen ist und immer wieder kommen wird. Darin liegt auch eine Form der Entlastung, nämlich der Entlastung von all den möglichen Leben, über die wir uns zu oft den Kopf zerbrechen.

Wie wäre es, mit jener Person zusammen zu sein, anstatt mit dieser? Hätte ich nicht doch eher auswandern sollen? Wo wäre ich jetzt, wenn ich damals den einen Job angenommen hätte? Oder etwas anderes studiert hätte? Nietzsche ruft uns ins Gedächtnis, dass wir nicht das sind, was wir hätten sein können, sondern ganz genau das sind, was wir sind. Und immer schon waren. Und immer wieder sein werden.