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/ Marx mit 20

Seismograph

Marx mit 20

Am Dienstag vor 140 Jahren, d.h. am 14. 3. 1883, starb der große Philosoph Karl Marx in London im Alter von 64 Jahre - arm, krank und überarbeitet. Sein Hauptwerk - Das Kapital - konnte er leider nicht mehr beenden. Dennoch haben sich Marx' Thesen durchgesetzt; wohl kaum ein Philosoph hat eine solche Wirkung auf die Menschheitsgeschichte entfaltet, wie Karl Marx. Aber wie hat alles angefangen, Wie wurde Marx zu dem weltberühmten Philosophen?

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4 min

Werden, was man ist

Ist es nicht interessant, dass die meisten von uns eben an diesen Marx, nämlich den späten Marx denken? Was ja auch vollkommen normal ist, denn das sind schließlich die Bilder, die am meisten zirkulieren. Aber dieser Fokus ist m.E. auch kulturell bedingt: wir betrachten das Leben eines Menschen meist von dessen Ende her, weil für uns das Ende des Lebens als dessen Krönung gilt. Dabei blenden wir leider oft die jungen Jahre aus, die Jahre des Irrens, des Wirrens und des Sich-Findens. Das führt wiederum dazu, dass wir den den Werdegang ausblenden, das Gewordensein der jeweiligen Personen, seien es nun KünstlerInnen, PhilosophInnen, SchriftstellerInnen, oder sonstige Idole. Wenn wir dann ein Foto oder Porträt aus ihren jungen Jahren sehen, dann stocken wir kurz und wundern uns: aus diesem jungen Menschen sollte einmal jene Person werden? Und daran anschließend die Frage: wie ist er oder sie geworden? Was hat ihn oder sie in jungen Jahren bewegt und beschäftigt? In welchem Umständen ist dieser Mensch groß geworden, was hat ihn oder sie geprägt? Zum Glück gibt eine Buchreihe, die sich eben mit diesem Werdegang befasst, und zwar in den Editions Au Diable Vauvert die Reihe "A 20 ans", in der es um große DenkerInnen in ihren Zwanzigern geht.

Der Junge Marx

In diesem Verlag erschien kürzlich das Buch Marx à 20 ans der französischen Philosophin Isabelle Garo, die eine bekannte Spezialistin des Marxismus ist. Nun gibt es ja sehr viele sehr gute Biographien zu Marx und zum Marxismus, warum also dieses Buch? Weil es meiner Meinung nach in einer ganz besonderen Dichte das Leben des jungen Marx im Kontext seiner Zeit und seiner jeweiligen Lebensorte beschreibt. So versetzt uns das Buch gleich zu Beginn in das Trier des frühen 19. Jahrhunderts, in eine Zeit und an einen Ort also, an dem die Ideen und Ideale der französischen Revolution auf den ebenso strengen wie willkürlichen preußischen Autoritarismus trafen. Wir erkennen, dass diese von Widersprüchen durchzogene Zeit den perfekten Nährboden für revolutionäre Infragestellung bot. Wir werden aber auch mit dem Antisemitismus konfrontiert, von dem Marx' Familie direkt betroffen war - Karls Onkel Samuel war der Rabbiner der Stadt. Unter diesem Druck konvertierte Marx' Vater Heinrich zum Protestantismus. Wir erfahren, dass Marx ein besonders inniges Verhältnis Marx zu seinem Vater hatte, der selbst politisch liberale Werte vertrat. Wir lernen Ludwig von Westphalen kennen, den Vater von Marx' zukünftiger Ehefrau, Jenny von Westphalen, der den 16-jährigen Marx in seinen Ideen bestärkte und ihn in die Welt des klassischen Altertums einführte.

Lebensweltbeschreibung

Wir lernen also insbesondere Marx' Lebensmenschen kennen - und genau darin besteht für mich der Reiz des Buchs. Es ist fast so, als trete Marx selbst hier ein Stück weit in den Hintergrund zugunsten des Kontexts seiner Jugendjahre. Ein Vorzug dieser Biographie ist es zum Beispiel, seine Ehefrau Jenny von Westphalen stärker in den Fokus zu bringen. Im schönen Film "The Young Karl Marx" von Raoul Peck inkarniert Vicky Krieps diese kluge und emanzipierte Frau, die Marx Lebensweg teilte, obwohl dieser Weg sie beide in Armut und Misere führte. "Une vie subie et choisie tout à la fois", wie Garo sich ausdrückt. Wir erleben aber auch den Bonner Studenten Karl Marx, der sich gerne duelliert, in vielen Clubs und Vereinigungen aktiv ist, sehr viel trinkt und seine Freiheit genießt - und das väterliche Geld verprasst. Der Vater wollte, dass er Anwalt werde - allerdings sagt Marx dieses Studium überhaupt nichts. Von Bonn geht es weiter nach Berlin, wo Marx sein Jura-Studium abschließen soll. Wir erleben hier einen zweifelnden Marx, der hin- und hergerissen ist zwischen dem Wunsch des Vaters, seiner Liebe zu seiner Verlobten, die daheim auf ihn wartet, der Verantwortung, der er sich stellen muss - und der Entdeckung der Philosophie.

Die Welt beschreiben, die Welt verändern

Marx war graphoman, überaus verbissen und schrecklich neugierig, mit dem Resultat, dass er sich für alles interessierte und alles ausprobierte. Marx hat Gedichte komponiert, Romane und Theaterstücke geschrieben, mit nur 19 Jahren seine erste Abhandlung zur Theorie des Rechts verfasst. Was ihn zur Philosophie, und insbesondere zur Philosophie Hegels trieb, war der Wunsch, die Realität zu verstehen und dadurch zu verändern. Anstatt mit abstrakten Idealen wie Toleranz, Respekt, Humanismus etc. an die Welt heranzugehen, will Marx das Werden der Dinge verstehen, um die Verhältnisse so konkret verändern zu können. Garo drückt Marx Überzeugungen folgendermaßen aus: "le but de la pensée n'est pas de se détourner de la réalité et de ses transformations, mais de les affronter en s'y ressouçant". Wer sich für Denken im Werden interessiert, wer den Monolith Marx einmal auflösen will, und sich dem zweifelnden, dem suchenden, dem irrenden, sprich dem jungen Marx widmen will, dem kann ich dieses Buch wärmstens ans Herz legen.