Radioen

On air

Nei Musek  |  Véier spektakulär nei Instrumentalstécker

play_arrow Live
arrow_back_ios

100komma7.lu

100komma7.lu

/ MacGuffin Lebensabend

Seismograph

MacGuffin Lebensabend

Haben wir alle nicht dieses eine Projekt, das so interessant, so zeitaufwendig und so spannend ist, dass man es jetzt gar nicht tun kann und immer wieder aufschieben muss?

auto_stories

3 min

Der Philosoph Lukas Held. Foto: Archiv

Die Wahlen in Deutschland sind hinter uns - aber eine Frage bleibt offen: was wird jetzt aus Angela Merkel? Wird sie nun als überbezahlte Rednerin bei irgendwelchen Bonzentreffs oder als private consultant durch den Privatsektor tingeln, wie Kohl und Schröder vor ihr? Oder wird sie die Rautenhände nun definitiv in den Schoss legen?

Endlich Zeit für Interessantes?

Sie wurde tatsächlich kürzlich darauf angesprochen und hatte Folgendes zu berichten (im O-Ton): sie nehme vorerst keine weiteren Aufgaben an und lege eine Pause ein um - halt dich fest - darüber nachzudenken, was sie wirklich interessiere. Außerdem werde sie lesen, bis ihr die Augen zufallen, und dann werde sie ein Nickerchen machen. Ist das nicht eine geniale Nicht-Antwort?

Vor allem die Sache mit den "Interessen" macht mich stutzig. Man hört es ja oft: "wenn ich pensioniert bin, widme ich mich endlich den Sachen, die mich wirklich interessieren und für die ich nie Zeit hatte". Als ob man sein Leben lang nur Dinge getan hätte, die einen nicht wirklich interessieren. Man muss hier die Gretchenfrage stelle: warum tut man's dann nicht direkt, warum schiebt man das, was man wirklich tun will, immer auf einen späteren Zeitpunkt, der vielleicht nie kommen wird?

Haben die Monate im Lockdown uns nicht deutlich vor Augen geführt, dass ein plötzlicher Zeitgewinn noch keine Verwirklichung der lang gehegten Pläne mit sich bringt? Seien wir ehrlich: die meisten von uns konnten mit der neugewonnen Zeit überhaupt nichts anfangen.

Idealprojekt Lebensabend

Denn dieser radikale Wechsel in unserer Lebensplanung war eben nicht selbstbestimmt - und konnte somit auch nicht wirklich antizipiert und genutzt werden. Der Soziologe Hartmut Rosa hat das einmal mit einem Stau verglichen - da ist man auf einmal auch entschleunigt und hat keine Ablenkung, aber damit kann man nichts anfangen, weil man eben nicht da ist, wo man sein sollte und sein will. Aber es geht nicht nur um die Zeitfrage, sondern vor allem um die Rede von dem, was man "immer schon tun wollte".

Mir scheint, dass diese vermeintlichen Projekte, denen man sich immer später einmal oder zum richtigen Zeitpunkt widmen will, eigentlich niemals realisiert werden können - eben weil sie eigentlich nie realisiert werden dürfen.

Es handelt sich hierbei nämlich um ideale Projekte einer idealisierten Version unserer Selbst. Ihre Realisierung würde das Ideal auf den Boden der Tatsachen zurückholen - und folglich zunichte machen. Deshalb schieben wir es vor uns her und weil wir es immer vermeiden, treibt uns das Idealprojekt immer weiter an.

Ein MacGuffin?

Es geht gar nicht um das, was man dann später einmal tun will, sondern einfach darum, dass man etwas hat, was so interessant, so zeitaufwendig und so spannend ist, dass man es jetzt gar nicht tun kann und immer wieder aufschieben muss.

Mich erinnert das an einen MacGuffin. Alfred Hitchcock hat diesen Begriff geprägt. In der Filmtheorie bezeichnet man damit ein Objekt, das die Handlung des Films vorantreibt und vor allem die Spannung des Zuschauers hochhält, ohne selbst jemals gezeigt zu werden und ohne irgendeine Relevanz für die Story an sich zu haben.

Du erinnerst dich vielleicht an den mysteriösen Koffer in Tarantinos Pulp Fiction. Der ganze Film dreht sich um diesen ominösen, goldglänzenden Koffer, aber es wird nie verraten, was drin ist. Das ist auch unwichtig, denn es geht allein darum, dass das Publikum sich fragt, was darin ist, zu vermuten, was er beinhalten könnte - und so den suspense hochzuhalten. All die wunderbaren Projekte, die wir angehen werden, wenn wir endlich einmal Zeit für sie haben - sie sind unser persönlicher MacGuffin.

Sie können gar nicht realisiert werden, weil ihre Funktion darin besteht, all das, wofür wir uns jetzt Zeit nehmen müssen, machbar erscheinen zu lassen. Die MacGuffin-Projekte zu realisieren das würde letztlich bedeuten, dass da nichts mehr ist, dass der Spannungsbogen fällt, dass die Geschichte zu Ende ist.

Und was dann herscht, ist die pure Langeweile. Deshalb sollten wir Frau Merkel wünschen, dass sie niemals das realisiert, was sie "wirklich interessiert", sondern weiterhin weniger Interessantem nachgeht, wie Bücher lesen und Nickerchen machen. Das könnte dann vielleicht sogar ein interessanter Lebensabend werden.