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Seismograph

Lebenskunst, Verschwörungstheorie und "Wir"

In der Sendung Seismograph geht es dieses Mal um zwei Veranstaltungen des Philosophen Wilhelm Schmid und ein Buch über Verschwörungstheorien.

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4 min

Der Philosophe Lukas Held. Foto: Archiv

Lukas, du bringt uns heute gleich zwei Veranstaltungstipps und einen Buchtipp mit.

Ja genau, auch wenn die Gedanken ja bekanntlich frei sind, so sind die Denkenden wie alle anderen auch vom aktuellen Lockdown light betroffen und müssen sich virtuell reproduzieren. Das kommt uns Mitdenkenden wiederum gelegen, weil wir dann z. B. einer Veranstaltung im fernen Österreich beiwohnen können, ohne dabei vom Sofa aufstehen zu müssen. Konkret geht es um zwei Vorträge des deutschen Philosophen und Publizisten Wilhelm Schmid, und zwar nächste Woche, am 12. und am 13. Januar, jeweils um 19h30, über YouTube. Am Dienstag den 12. spricht Schmid über sein 2017 erschienenes Buch "Das Leben verstehen", und Mittwoch den 13. wird es um das Thema "Angst und Zuversicht. Gedanken anlässlich Corona" gehen.

Kannst du uns vielleicht kurz etwas zum Autor erzählen?

Wilhelm Schmid wurde bekannt durch mehrere Publikationen zur philosophischen Praxis, also zu dem Teilbereich der Philosophie, in dem es weniger darum geht, theoretisch über das Denken selbst nachzudenken, und eher darum, zum Denken anzuregen, praktisch halt.

So soll der Alltag, das eigene Leben und dessen Sorgen denkend aufgearbeitet werden. Das nennt man auch Lebenskunst. Mit diesem schönen Wort bezeichnet man die Fähigkeit, dem Leben die richtigen Fragen zu stellen - allerdings nicht, um darauf schnellstmöglich Antworten folgen zu lassen, nein. Die Antwort ist insofern das Unglück der Frage, als die Frage Möglichkeiten öffnet, während die Antwort sie immer schon verschließt.

Ein Lebenskünstler ist demnach jemand, der Fragen stellt, Möglichkeiten und Optionen eröffnet, um so eine Idee davon zu kriegen, was möglich ist in diesem Leben. Und wenn man weiß, was möglich ist, und unter welchen Bedingungen - ja dann ist man seines Lebens mächtig. Das ist umso wichtiger als wir heute eine große Freiheit in unserer Lebensgestaltung besitzen. Dieses Mehr an Freiheit zwingt uns allerdings dazu, uns bewusst mit unserem Leben auseinanderzusetzen, willentlich Entscheidungen zu treffen um letztlich zu wählen, welches Leben wir wie und warum führen möchten - selbst wenn das nicht immer völlig in unserer Hand liegt. Schließlich ist man meist so sehr damit beschäftigt, zu leben, dass man das Leben selbst aus den Augen verliert.

Das klingt interessant. Beim nächsten Veranstaltungstipp geht es aber um etwas völlig anderes, oder?

Ja, und zwar um das Thema Verschwörungstheorien, das ja in Zeiten von Covid und Massenimpfungen stark an Auftrieb gewonnen hat.

Der deutsche Amerikanist Prof. Michael Butter hat zu diesem Thema bereits vor zwei Jahren im Suhrkamp Verlag ein wichtiges Buch veröffentlicht, mit dem Titel "Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien". Sein Vortrag zum Thema "Verschwörungstheorien in der Corona-Krise" wird von der Universität Münster organisiert und findet statt am Donnerstag den 14. Januar, von 18:15 bis 20:00, über Zoom. Für diese Konferenz muss man sich anmelden.

Vielleicht noch kurz etwas zum Vortragenden: für Butter stehen Verschwörungstheorien einem adäquaten Verständnis der Realität im Wege, liefern jedoch nicht per se Nährboden für Gewalt. Man muss jedoch unterscheiden zwischen Verschwörungstheorien, die sich gegen Eliten, und denen, die sich gegen Minderheiten richten - denn letztere führen viel häufiger zu Gewalt und Terror.

Problematisch sind laut Butter ebenfalls die medizinischen Verschwörungstheorien, bspw. gegen das Impfen, die zu erheblichem Schaden für die Gesellschaft führen können, insofern die Herdenimmunität nicht gewährleistet werden kann. Verschwörungstheorien, die sich gegen Eliten richten, sind insofern problematisch, als sie das Gefüge der Demokratie selbst angreifen.

Wenn das Vertrauen in die Entscheidungen der gewählten Volksvertreter abhanden geht, dann verfällt das Volk in einen Zustand des generellen Misstrauens und letztlich in politische Apathie. "Die da oben" sind dann unendlich weit weg und gehören nicht mehr zu einem vermeintlichen "Wir". Und wenn man "Wir" sagt, dann sagt man auch "Ihr", also "ihr anderen".

Und zu diesem Thema hast du auch einen Buchtipp?

Ja, es handelt sich zwar um eine Publikation von 2019, die leider nichts an Aktualität verloren hat, nämlich Heinrich Deterings rhetorische Analyse des Diskurses der parlamentarischen Rechten in Deutschland mit dem Titel "Was heißt hier "wir'?", erschienen im Reclam Verlag. In diesem kleinen Büchlein legt der Sprachwissenschaftler die Ideologie im Gebrauch von Wörtern wie "Wir", "Uns", "die Anderen", "das System", "die Eliten", usw. offen. Eine ideale Lektüre, um das Jahr 2021 kritisch beginnen zu lassen - und vielleicht auch ein bisschen wütend, was ja nicht unbedingt schlecht ist.