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Seismograph

Hikikomori

Unser Leben spielt sich seit einem Jahr zunehmend im Digitalen ab: der Philosoph Lukas Held über den Zustand des Zwischens - zwischen da sein und wirklich ganz woanders sein.

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4 min

Der Philosoph Lukas Held. Foto: Archiv

Simon Larosche: Guten Morgen!

Lukas Held: Moien Simon. Simon, hast du schonmal von den hikikomori gehört?

Nicht das ich wüsste. Was ist das?

Das Wort hikikomori kommt aus dem Japanischen und bedeutet "sich einschließen" oder "sich absondern". Damit bezeichnet man in Japan vor allem junge Männer, die sich (aus den verschiedensten Gründen) dazu entschieden haben, radikal aus der Gesellschaft auszusteigen. Sexuelle und soziale Kontakte haben sie überhaupt keine, denn hikikomori leben alleine und zurückgezogen in winzigen Ein-Zimmer-Wohnungen, die sie manchmal jahrelang nicht verlassen. Sie leben vor dem Computerbildschirm und existeren eigentlich nur noch im virtuellen Raum, in den sie sich nach und nach zurückziehen. Man schätzt übrigens, dass rund 20% der japanischen jungen Männer als hikikomori leben. Du fragst dich jetzt bestimmt, warum ich dir davon erzähle...

Ja, was hat es damit auf sich?

Die hikikomori, diese jungen Einsiedler sind eine moderne Form des Untoten. Sie sind untot, denn sie sind weder wirklich da noch völlig verschwunden. Sie leben in einer Art Zwischenraum des Wartens, ohne jemals wirklich anzukommen - denn das würde bedeuten, sich nach draußen zu wagen, also etwas zu verlassen. Nein, sie leben im Stillstand, im Nirgendwo. Eigentlich sind sie Geister des 21. Jahrhunderts, also Wesen, die zwar anwesend sind, ohne wirklich da zu sein.

Du willst also über Geister sprechen.

Ja, ich habe nämlich den Eindruck, dass wir seit einem Jahr umgeben sind von Geistern. Zum Beispiel im Video-Meeting, die ich als enseignant ja leider jeden Tag über mehrere Stunden habe. Ich spreche jeden Tag zu Menschen, die zwar existieren (denn ich weiß ja, dass sie existieren), die aber nicht wirklich präsent sind insofern ich sie nicht sehe und meistens auch nicht höre. Im Video-Meeting ist man tatsächlich in einem Zustand des Zwischens - zwischen da sein und wirklich ganz woanders sein - sowohl physisch und wie auch psychisch. Die Gedanken schweifen ab, man hört auf, dem Meeting zu folgen, man tut anderes und ist dabei abwesend, ohne wirklich weg zu sein. Und um zu zeigen, dass man auch im Virtuellen wirklich da ist, wirklich anwesend ist, muss man ironischerweise viel präsenter sein, als in der Realität - man muss sich ganz aktiv zu Wort melden, man muss aufmerksam in die Kamera sehen, man muss zeigen, dass man zuhört, man muss viel mehr mitmachen - kurz gesagt: man muss sich manifestieren. Im Video-Call ist man entweder abwesend oder überpräsent - ein bisschen wie der Geist, der dich plötzlich heimsucht, um dann wieder durch die Wand zu verschwinden.

Überall Geister also...?

Ja, aber nicht unter weißen Bettlaken so wie bei Scooby Doo - sondern eher philosophisch und spekulativ, als eine Art anwesende Abwesenheit.

Was ist ein Geist aus philosophischer Sicht? Der französische Philosoph Jacques Derrida sagte einmal sehr treffend, ein Geist sei die Erinnerung an etwas, das niemals erlebt wurde, also die Präsenz einer Sache, die niemals präsent gewesen ist. Der Geist ist etwas Totes, also Vergangenes, das als etwas Gegenwärtiges wiederkehrt - obwohl es niemals zur Gegenwart gehört hat. Wovon Derrida hier spricht ist nichts anderes, als was wohl jeder junge Mensch auf diesem Planeten gerade erlebt - nämlich die Erinnerung an etwas, was man selbst niemals erlebt hat, die Anwesenheit eines Abwesenden. So gestand mir eine ehemalige Schülerin, mittlerweile Studentin, vor Kurzem, dass sie seit Semesterbeginn keinen einzigen Kommilitonen gesehen habe - da eben alle Kurse online stattfinden. Gar nicht zu sprechen von Party, Rausch, Exzess, von Feiern, Kennenlernen, von Austausch, von Unsinn und Fehlern und dabei irgendwie auch von Selbstfindung. Stattdessen: hikikomori-Existenz in der Einzimmer-Dachwohnung - wartend auf etwas, von dem man nicht weiß, wie und ob es jemals wieder eintreten wird.

Die Jugendlichen sind also besonders stark betroffen...

So erlebe ich es zumindest. Und das ist der springende Punkt: eigentlich sind wir ständig umgeben von Geistern, von Erinnerungen an eine Vergangenheit, die nicht mehr zu uns gehört. Deshalb verschwinden die Geister meistens auch sehr schnell, weil wir nämlich eine Zukunft haben - ohne Geister. Die Ungewissheit, in der wir momentan leben müssen, macht es uns jedoch unmöglich, die Geister zu vertreiben, sprich: zu trauern ... um dann weiterzumachen. Und so warten Millionen von Jugendlichen auf eine Zukunft, von der sie nichts wissen, mit den Geistern einer Vergangenheit, die sie nie erlebt haben.