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Seismograph

Es juckt!

Dass man sich nicht immer kratzen sollte, wenn es juckt, ist eine banale Einsicht, die in den verschiedensten Formen auch in der Philosophie thematisiert wurde.

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3 min

Der Philosoph Lukas Held. Foto: Archiv

Mich hat es erwischt - wie so viele andere in diesen Tagen. Ob nun Mücken, Grasmilben oder Eichen-Prozessionsspinner...ich weiß nicht, was letztlich der Grund war, aber es hat gejuckt. Und wenn es juckt, dann kratzt man sich. Genau das - so hört man ja immer - macht das Jucken aber nur noch schlimmer. Natürlich schafft das Kratzen für eine kurze Zeit Linderung - ja sogar eine Form von Genugtuung - aber später kommt das Jucken dann umso heftiger zurück.

Dem wiederum begegnet man mit umso heftigerem Kratzen, usw. usf. und man ist mitten in einem Teufelskreis. Dem entkommt man nur, wenn man auf das verzichtet, was man am liebsten tun würde, nämlich sich kratzen - aber wir alle wissen, wie schwer das ist. Dass man sich nicht immer kratzen sollte, wenn es juckt, ist eine banale Einsicht, die in den verschiedensten Formen auch in der Philosophie thematisiert wurde, und das bereits in der Antike. Obwohl es im antiken Griechenland bestimmt keine Eichen-Prozessionsspinner gab, wohl eher Olivenbaum-Prozessionsspinner.

Sokrates kratzt sich nicht

Aber zurück zum Kratzen: in einem der von seinem Schüler Platon überlieferten Dialoge debattiert Sokrates mit einem gewissen Kallikles über die Frage, was denn nun ein glückliches Leben sei. Kallikles behauptet, dass Glück gleichzusetzen ist mit der Befriedigung von Bedürfnissen. Sokrates erwidert, dass man jemanden, der die Krätze hat, den es also immer juckt, und der sich nach Lust und Laune kratzt, wohl kaum als einen glücklichen Menschen bezeichnen könnte - auch wenn das ständige Kratzen ihm wohl viel Lust und Befriedigung bereitet. Sokrates macht dabei deutlich, dass nicht jede Lustbefriedigung auch etwas Gutes ist.

Wenn wir uns kratzen, befriedigen wir nur einen Mangel - wir versuchen anders gesagt, einen status quo wiederherzustellen, ohne dabei etwas Neues zu gewinnen. Um es mit Sokrates zu sagen: wir versuchen, einen Krug zu füllen, der voller Löcher ist - und darum immer gefüllt werden muss. Wäre es da nicht besser, die Löcher zu stopfen, anstatt ständig nachzufüllen? So ist das mit der Lust: sie will befriedigt werden, ohne je völlig befriedigt werden zu können.

Wittgenstein juckt's

Ja natürlich, vor allem angesichts der Tatsache, dass - wie Montaigne sagt - "la gratterie est la plus douce des gratifications de la nature". Aber abgesehen vom Ignorieren haben wir Menschen einfach keine richtige Alternative zum Kratzen. Das Jucken ruft das Kratzen, das Kratzen bewirkt das Jucken: Jucken und Kratzen haben eine Dynamik, die sich selbst genügt.

Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein hat das mit der Philosophie selbst verglichen. Auf die Frage, warum die Philosophie bisweilen keinen Fortschritt gemacht zu haben scheint, antwortete er "Wenn einer kratzt, wo es ihn juckt, muss dann ein Fortschritt zu sehen sein? Ist es sonst kein echtes Kratzen, oder kein echtes Jucken? Und kann nicht diese Reaktion auf die Reizung lange Zeit so weitergehen ehe ein Mittel gegen das Jucken gefunden wird?"

Anders gesagt: Das Kratzen ist die menschliche Antwort auf das Jucken - auch wenn man damit nicht weiterkommt - ebenso wie die Philosophie die Antwort auf die ewigen Fragen ist, die sich Menschen stellen, seit sie "Ich" sagen können - auch wenn man damit nicht weiterkommt. Gegen diese alten und ewigen Fragen (Warum bin ich ich und nicht jemand anders? Kann ich ein gutes Leben führen? Erscheint mir die Welt so, wie sie ist, oder anders?) - gegen diese Frage kann man nichts tun - ebenso wenig wie gegen das Jucken, das Husten, das Niesen und das sich Verlieben.

Jeder Stich eine Kränkung

Aber ehrlich gesagt: das énervement général, das Grasmilbe, Prozessionsspinner und Mücke ausgelöst haben, ist mir eigentlich sympathisch. Weil es etwas über unseren Platz in der Natur sagt. Ein Allgemeinmediziner sagte im Fernsehen dazu, dass man draußen beim Spaziergang ja leider nicht alle Körperstellen bedecken könne. Hier ist eigentlich schon alles gesagt über uns Verhältnis zur Natur. Solange wir nämlich megaloman durch Wald und Flur trampeln, solange ist jeder Mückenstich eine Kränkung.