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Seismograph

Das gewöhnliche Leben

Im neuen Buch der französischen Philosophin Adèle van Reeth geht es um das gewöhnliche Leben. "La vie ordinaire" ist ein philosophisches Essay über den Begriff des Gewöhnlichen, eine feministische Reflexion über das Mutter-Werden.

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4 min

Moderation ist Maieutik

Adèle van Reeth ist eine französische Philosophin und moderiert jetzt schon seit mehr als zehn Jahren die Sendung "Les chemins de la philosophie" bei France Culture, eine der erfolgreichsten Radiosendungen in Frankreich, auch eines der wichtigsten Verbreitungsorgane für die Philosophie allgemein.

Adèle van Reeth schafft es auf eine, wie ich finde sehr kluge und subtile Art und Weise, komplexe philosophische Themen herunterzubrechen und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Und manchmal die Kollegen Philosophen aus ihren Elfenbeintürmen ans Tageslicht zu locken und sozusagen auf den Marktplatz, auf die agora zu stellen.

Das ist eine ganz besondere und schwierige Kunst, die sie da beherrscht - und die an sich wiederum philosophisch ist.

Es erinnert mich nämlich an Sokrates und seine Maieutik, seine Hebammenkunst, wie man auf Deutsch sagt. Sokrates' Mutter war Hebamme, und er verglich seine Methode der Philosophie mit der Arbeit einer Hebamme. Die Hebamme war - zumindest in der Antike - eine "sterile" Frau, also eine Frau, die keine Kinder mehr haben konnte. Sokrates ist der Denker, der selbst kein einziges Wort zu Papier gebracht hat, und den anderen dabei hilft, ihr Wissen zu gebären.

"La vie ordinaire"

Aber hier hört die Analogie nun auf, denn Adèle van Reeth hat ihr erstes eigenes Werk veröffentlicht, mit dem Titel "La vie ordinaire". Das Thema der Schwangerschaft und der Geburt zieht sich durch dieses sehr persönliche Werk, in welchem sie immer wieder zwischen philosophischer Reflexion und autobiographischem Bericht hin- und herwechselt.

Thema ist das gewöhnliche Leben - und eben dieses gewöhnliche Leben, das doch Teil unser aller Existenz ist, kommt nur selten in den Fokus der Philosophie, die sich lieber mit dem Außergewöhnlichen befasst. Aber was das Gewöhnliche ist, was es mit uns macht und wie man es abgrenzen muss zu dem Alltäglichen, der Routine und dem Banalen - das ist nicht immer ganz klar.

Das Gewöhnliche entweicht einem immer wieder, es ist kein sehr dankbares oder ergiebiges Thema. Adèle van Reeth nähert sich dem Thema literarisch - ein Thema, mit dem sie ein sehr konfliktuelles Verhältnis hat.

Es graust ihr vor dem Gewöhnlichen, weil es ihrer Meinung nach einlullend wirkt, weil es Tendenz hat, sich ständig zu wiederholen, zur Routine zu werden. Weil es vorhersehbar ist. Zugleich entwischt uns dieses Gewöhnliche immer dann, wenn wir versuchen, es zu beschreiben.

Denn es gibt tatsächliches nichts Schwierigeres, als zu beschreiben, was einfach da und selbstverständlich ist. Eben das gilt auch insbesondere für das Gewöhnliche, das Ordinäre. Jeder meint zu wissen, worum es geht, aber wenn man genauer hinsieht, ist die Sache nicht so leicht. "Ordinär", das Wort kommt aus dem Lateinischen ordinare, was schlicht "in Ordnung bringen" bedeutet.

Das, was im gewöhnlichen Leben "in Ordnung gebracht" wird, ist das chaotische Leben, das bordel, wie Adèle van Reeth es nennt.

Ordinär = ordentlich

Man will Ruhe in dieses bordel bringen, weshalb man man sich in Gartenarbeit oder ins Autoputzen vertieft, einen Sonntagsspaziergang macht, vor Netflix einschläft. Kurz: man lernt die "kleinen Dinge des Lebens" schätzen.

Aber hinter alldem scheint das Chaos durch, die Unruhe macht sich bemerkbar hinter dem schönen Schein des Gewöhnlichen, hinter der Fassade des unaufgeregte, des normalen Lebens. Symbolisch für diese Unruhe steht in ihrem Buch die Geburt ihres Sohnes, ein ebenso freudiges wie unheimliches Ereignis, das hier in all seiner Ambivalenz beschrieben wird.

Denn das ist dieses Buch auch: nicht nur eine Reflexion über das gewöhnliche Leben, sondern auch darüber, wie dieses außergewöhnliche Ereignis der Geburt in das Leben tritt, wie es das Denken verändert, wie es Perspektiven verschiebt.

Die Schwangerschaft und die Geburt sind eine Herausforderung für das philosophische Denken - auch und gerade, weil die allermeisten Philosophen der Tradition genau dieses Ereignis nicht am eigenen Leib erlebt haben. Da ist es schon etwas ironisch, das die Maieutik, also die Hebammenkunst, eines der Gründermythen der Philosophie ist.

"La vie ordinaire" ist ein philosophisches Essay über den Begriff des Gewöhnlichen, eine feministische Reflexion über das Mutter-Werden, ein sehr gut geschriebener autobiographischer Bericht einer jungen Philosophin.

Für mich ist dieses Buch vor allem eine sehr akkurate Beschreibung der Ereignisse in unserem Leben, die es aus der Bahn werfen: Geburt, Trennung, Abtreibung, Tod eines geliebten Menschen. Es ist ein Buch über die Unruhe, die unserem Leben innewohnt - und die wir meistens versuchen, zu unterdrücken. Eben, indem wir das Gewöhnliche in den Vordergrund stellen.