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SEISMOGRAPH

Biosicherheit

Ein gesunder Körper ist Pflicht, auch wenn es bedeutet, den Geist zu opfern. So definiert der Philosophie Giorgio Agamben das Credo der "Biosicherheit", appelliert aber kritisch zu bleiben, damit Vorsicht nicht zum Vorwand wird.

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4 min

Der Philosoph Lukas Held. Foto: Archiv

Simon Laroche: Hallo Lukas, du hast heute ein Buch dabei.

Lukas Held: Vor rund einem Jahr trat ja der Ausnahmezustand ein - zunächst institutionalisiert als état de crise, dann nach einigen Monaten formell wieder aufgehoben, und weiterhin gelebte Realität insofern es uns seit einem Jahr immer noch nicht erlaubt ist, uns frei zu bewegen oder Menschen zu sehen, die uns am Herzen liegen.

Einer der ersten und wenigen Philosophen von Rang und Namen, der sich kritisch zu diesen politischen Maßnahmen äußerte, war der italienische Philosoph Giorgio Agamben. Nun ist unter dem Titel "An welchem Punkt stehen wir?" eine Sammlung seiner Interventionen zur Corona-Krise erschienen, die er von März bis Juli in diversen Zeitungen veröffentlichte. Das Buch ist aus mehreren Gründen lesenswert, und der erste ist zugleich auch die größte Schwäche der Texte: insofern Agamben immer à l'immédiat auf die dramatischen Ereignisse im März letzten Jahres reagiert, versteigt er sich mitunter zu Spekulationen, von den wir heute wissen, dass sie schlicht falsch waren, wie zum Beispiel den Vergleich des Virus mit einer einfachen Grippe. Mir ist diese Unzulänglichkeit allerdings sympathisch, da sie offenbart, wie wenig wir wussten und wieviel mehr wir heute wissen.

Was ist denn eigentlich sein Hauptkritikpunkt?

Agamben ist bekannt für seine Studien zum Thema "Ausnahmezustand". Der Ausnahmezustand ist das rechtliche Werkzeug, mithilfe dessen eine Rechtsordnung sich selbst auflösen kann, mithilfe dessen die verfassungsrechtlichen Garantien aufgehoben werden, ohne dabei eigentlich die Sphäre der Legalität zu verlassen.

Seit dem 11. September 2001 haben sich liberale Demokratien regelmäßig dieses Mittels bedient, um einerseits ihren Sicherheitsapparat zu verstärken und andererseits ohne Rücksicht auf die Verfassung die Freiheit der Bürger einzuschränken - natürlich unter dem Vorwand einer Garantie der Sicherheit. Die Dialektik zwischen Freiheit einerseits und Sicherheit andererseits ist tatsächlich das Zeichen unserer Zeit, wobei die Balance ja eher gen Sicherheit tendiert. Wir Menschen sind (das sehen wir aktuell) dazu bereit, immense Opfer aufzubringen, um uns sicher zu fühlen. Agamben stellt nun fest, dass sich der Ausnahmezustand normalisiert (das heißt von einer breiten Mehrheit akzeptiert wird) und dass er sich deshalb in Zukunft wohl auch perennisieren wird.

Also für ihn ist nach der Krise eben nicht vor der Krise.

Ja ganz genau. Nach der Krise werden vielleicht nicht mehr die blauen Gesichtsmasken unseren Alltag prägen, wohl aber die Kontrollen durch Polizei und private Sicherheitsfirmen, wohl aber Verbote größerer Massenversammlungen (wie zum Beispiel Demonstrationen) und die Digitalisierung (das heißt Privatisierung) unserer sozialen Gefüges. Der Vorwand all dieser Maßnahmen ist laut Agamben die Biosicherheit.

Das musst du erklären.

Als "Biosicherheit" bezeichnet Agamben das Credo demzufolge ein gesunder Körper zur Pflicht wird - auch wenn es bedeutet, dafür die Kultur, den Glauben, den sozialen Austausch, ja einfach gesagt: den Geist zu opfern. Anstatt unsere Freiheit wie vorher für Sicherheit zu opfern, opfern wir sie nun für Gesundheit. Aus dem Recht auf Gesundheit ist dabei die Verpflichtung zur Gesundheit geworden. Mit dem Konzept der Biosicherheit spielt Agamben übrigens auf seine Arbeiten zur Biopolitik an.

Was ist das?

Unter Biopolitik versteht man (seit Michel Foucault) jene Art von Politik, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Leben und Sterben der Bürger zu sichern, zu kontrollieren und zu verwalten. Das ist nur möglich, weil die Einheit zwischen Körper und Geist, zwischen nackten biologischen Leben auf der einen Seite und geistig-kulturellem Leben auf der anderen Seite aufgespalten wird. So kann der Bürger schlicht als ein Lebender behandelt werden, als ein nackter Körper, ohne Geist und ohne Stimme.

So kann auch die Verwissenschaftlichung der Politik vorangetrieben werden, so werden auf einmal Mediziner, Virologen, und Statistiker zu privilegierten Ansprechpartnern der Politik. Für Agamben ist also nicht mehr die Sicherheit, sondern das nackte Leben der Bezugspunkt der Politik und das social distancing dabei das neue gesellschaftliche Paradigma. Anstatt die Mitmenschen zu schützen, hat das social distancing tatsächlich den Mitmenschen abgeschafft und ihn durch den anderen Körper ersetzt. Andere Körper lassen sich pflegen und behüten, aber auch beobachten, kontrollieren - und isolieren. Der geistlose Körper ist also viel beherrschbarer und ohnmächtiger gegenüber der Staatsmacht.

Ziemlich düstere Aussichten...

Ja Agamben zeichnet tatsächlich ein düsteres Bild der Zukunft - und auch wenn man nicht mit ihm einverstanden ist, lohnt sich die Lektüre m.E. schon aus einem Grund. Unsere Sehnsucht nach Normalität droht uns blind und gefällig zu machen gegenüber dem, was die Politik uns zugesteht. Ich verweise nur darauf, dass in Portugal gerade der Ausnahmezustand verlängert wurde - und das obwohl die Zahlen runtergehen, nur als reine "Vorsichtsmaßnahme". Demgegenüber müssen wir kritisch bleiben, damit Vorsicht eben nicht zum Vorwand wird.