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/ Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Buchkritik

Andrej Kurkow: Samson und Nadjeschda

Mat sengem Roman "Pinguine auf dem Eis" war dem ukrainesche Schrëftsteller Andrej Kurkow virun 20 Joer den internationalen Duerchbroch gelongen. Säitdeem zielt hien zu de wichtegste literaresche Stëmmen aus der Ukrain. A sengem neie Roman geet de Kurkow honnert Joer zeréck a féiert eis a seng Heemechtsstad Kiew, kuerz éier se vun der Rouder Arméi besat ginn ass.





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3 min

Das Geräusch des Säbels, der auf den Kopf seines Vaters krachte, betäubte Samson. Aus dem Augenwinkel sah er das Aufblitzen einer funkelnden Klinge ... Der linke Arm seines bereits toten Vaters stieß ihn zur Seite, und so traf der nächste Hieb nicht Samsons rothaarigen Kopf, aber auch nicht daneben - er schlug ihm das rechte Ohr ab, Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es festumschlossen in der Faust, während sein Vater mit gespaltenem Schädel direkt auf die Straße stürzte und das Pferd ihn ... noch einmal niedertrat.

Der Reiter gab dem Tier die Sporen und stürmte weiter die Straße herunter, wo sich ein Dutzend fliehender Kiewer schon in die Gräben warfen, weil sie begriffen, was sie erwartete.

Ein Roman mit historischer Kulisse

Andrej Kurkows Roman "Samson und Nadjeschda" beginnt mit einem Paukenschlag und führt den Leser geradewegs in die "blutgetränkte Stadt" Kiew, in der nach dem Einmarsch der Roten Armee Bürgerkrieg herrscht.

Die Bolschewiki ringen dort mit Zaristen, Anarchisten und Dieben um die Oberhand. Die Einheimischen werden terrorisiert, ihre Wohnungen besetzt, ihr Hab und Gut gestohlen, bzw. "requiriert". Mord ist an der Tagesordnung, Nahrungsmittel sind knapp, Heizmaterial und Strom Mangelware.

1919, ein Jahr nachdem die ukrainische Unabhängigkeitserklärung durch die russische Invasion zunichte gemacht wurde, geht es für die Bewohner von Kiew ums nackte Überleben.

Mit dem Zweiten hört man besser

Samson steht nach der Ermordung seines Vaters ganz alleine da, und zudem nur noch mit einem Ohr. Dass er das Ohr gerettet hat, stellt sich bald als Glück im Unglück heraus. Denn das abgetrennte Ohr, das Samson in einer Schachtel aufbewahrt, übermittelt ihm immer noch, was es hört, egal wie weit er sich davon entfernt.

Das kommt ihm zugute, als zwei zwielichtige Rotarmisten sich bei ihm einnisten.

Und auch in dem rätselhaften Kriminalfall, in dem Samson nach seinem Eintritt in den Polizeidienst ermittelt, leistet das abgetrennte Ohr ihm gute Dienste.

Dieses surreale Element lockert die düstere Atmosphäre auf, vor der sich der spannungsgeladene Krimi entwickelt. Ebenso wie die zarte Beziehung zwischen Samson und Nadjeschda. Oder die grotesken Bemühungen der Bolschewiki, ihre Macht auf bürokratischem Weg zu festigen.

Eine neue moderne Erzähltradition

Zusammengehalten wird das Absurde, das Beklemmende, das Magische und das Zarte durch Andrej Kurkows warmherzigen Erzählton und seinen abgeklärten Humor.

Das nimmt der Geschichte jedoch keineswegs ihren Stachel, dafür sind die Bilder, die Kurkow von den historischen Ereignissen heraufbeschwört, viel zu eindringlich, sie gehen unter die Haut.

Der 61-jährige Autor, der in St. Petersburg geboren wurde und in Kiew aufwuchs, wird international als Erneuerer der modernen Erzähltradition gefeiert. In "Samson und Nadjeschda" nutzt Andrej Kurkow sein Talent u.a., um ein düsteres Kapitel der ukrainischen Geschichte auszuleuchten, das Parallelen zur Gegenwart zeigt.

"Ende. Aber Fortsetzung folgt", verspricht er am Schluss des Romans, mit dem er 2020 eine Serie von historischen Krimis eröffnete. Doch das Projekt liegt seit dem 24. Februar auf Eis. Andrej Kurkow hat der Fiktion ade gesagt. Er macht sich seit dem russischen Überfall in Essays und Interviews für sein Heimatland, die Ukraine, stark.